Rendezvous mit Übermorgen
auszuschließen.
Sie wandte sich vom Terminal ab und fiel auf ihre Koje. Dort erinnerte sie sich, wie verblüfft sie während der halbminütigen Inspektionsperiode gewesen war, als Borzows Blinddarm deutlich sichtbar war. Das war eindeutig keine Appendicitis, dachte sie. Ohne klare Absicht stand sie wieder auf, ging ans Terminal und fragte den zweiten Datenkomplex ab, den sie der elektronischen Diagnostik zur Bewertung vorgelegt hatte, knapp bevor sie sich entschloss, die Operation anzuordnen. Der Zeile APPENDICITIS-WAHRSCHEINLICHKEIT 92 % auf dem einen Schirm schenkte sie nur kurz Beachtung und wandte sich stattdessen den Alternativdiagnosen zu. Und diesmal erschien TOXISCHE REAKTION an zweiter Stelle als potentielle Ursache; die Wahrscheinlichkeit betrug vier Prozent. Nicole forderte dann eine variierte Datendarstellung ab: Sie verlangte eine Routinestatistik mit der Zusammenstellung wahrscheinlicher Symptome unter der Voraussetzung, dass es sich nicht um eine Blinddarmentzündung handle.
Sekunden später blinkten die Ergebnisse auf dem Monitor auf. Nicole war erstaunt. Unter der Voraussetzung, dass Appendicitis als Ursache der Störung ausgeschlossen war, ergaben die biometrischen Daten aus den Sondenimplantaten in Borzows Körper eine Möglichkeit von 62% für eine toxische Reaktion. Aber ehe sie noch weitere Analysen abschließen konnte, klopfte jemand an ihre Tür.
»Herein«, sagte sie und arbeitete weiter am Terminal. Als sie sich umwandte, sah sie Irina Turgenjew in der Tür. Die sowjetische Pilotin schwieg zunächst, dann stammelte sie: »Sie haben mich geschickt, um Sie zu holen.« Außer gegenüber ihren osteuropäischen Kollegen, Tabori und Borzow, begegnete sie jedem mit großer Scheu. »Wir halten eine Mannschaftsbesprechung in der Halle ab.«
Nicole sicherte ihre temporäre Datenzusammenstellung und trat dann zu Irina auf den Gang. »Was für eine Besprechung?«, fragte sie.
»Organisationstechnisch«, war alles, was Irina sagte.
Als die beiden Frauen in der Lobby ankamen, war zwischen Reggie Wilson und David Brown ein hitziger Wortwechsel im Gange. »Ich soll also akzeptieren«, sagte Dr. Brown gerade beißend, »dass Sie glauben, das ramanische Raumschiff hat absichtlich exakt in diesem Moment ein Manöver vorgenommen? Möchten Sie dann nicht uns allen erläutern, wie dieser Asteroid aus totem Metall wusste , dass an General Borzow in genau jenem Moment eine Blinddarmoperation durchgeführt werden sollte? Und wenn Sie schon mal dabei sind, würden Sie dann vielleicht auch gleich erklären, warum dieses angeblich uns feindlich gesinnte Raumschiff uns erlaubte, bei ihm anzudocken, und nichts unternahm, um uns von der Durchführung unsrer Mission abzubringen?«
Reggie Wilson schaute hilfesuchend umher. »Sie hobeln schon wieder mal mit dem groben Hobel Ihrer Logik herum, Brown.« Wilsons Frustriertheit war unüberhörbar. »Alles, was Sie sagen, klingt oberflächlich immer logisch. Aber ich bin nicht der Einzige in dieser Mannschaft, der diese Koinzidenz beunruhigend findet. Da, hier kommt ja Irina Turgenjew. Sie hat mich überhaupt erst auf einen möglichen Zusammenhang aufmerksam gemacht.«
Dr. Brown nahm das Eintreffen der beiden Frauen zur Kenntnis. Aus der autoritären Art, wie er Fragen stellte, durfte man schließen, dass er die Leitung der Versammlung hatte. »Stimmt das, Irina?«, fragte er. »Glauben auch Sie wie Wilson, dass Rama uns während der Operation am General durch sein Manöver irgendeine spezielle Botschaft übermitteln wollte?«
Irina und Hiro Yamanaka waren die beiden Teamangehörigen, die gewöhnlich bei solchen Meetings am wenigsten sprachen. Nun, da alle Blicke auf sie gerichtet waren, murmelte Irina ein sehr unterwürfiges »Nein«.
»Aber als wir gestern Nacht darüber sprachen ...«, bedrängte Wilson sie.
»Damit wäre das Thema erledigt«, unterbrach Brown ihn herablassend. »Ich denke, wir sind übereinstimmend der Überzeugung, die übrigens von unserer Missionskontrollbehörde auf der Erde geteilt wird, dass das Rama-Manöver zufällig und nichtkonspirativ war.« Er schaute den wutbebenden Reggie Wilson an. »Aber wir müssen jetzt noch andere, weit wichtigere Punkte besprechen. Ich möchte Admiral Heilmann bitten, uns zu sagen, was er über das Problem der Führung in Erfahrung gebracht hat.«
Otto Heilmann erhob sich aufs Stichwort und las aus seinen Notizen ab. »Gemäß Newton-Verordnung soll im Falle des Todes oder der Befehlsunfähigkeit des
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