Rendezvous mit Übermorgen
dass der Roboter nicht aufgehört hatte zu schneiden. Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die Gewalt, die sie wieder gegen die Wand zu schleudern versuchte, und es gelang ihr irgendwie zum Kontrollkasten zu langen und den Strom abzuschalten. Das Skalpell zog sich aus dem Tümpel von Blut zurück und legte sich an einer Halterung ab. Nicole versuchte nun die schwere Blutung zum Stillstand zu bringen.
Dreißig Sekunden später verschwand die unerklärliche Krafteinwirkung ebenso plötzlich, wie sie aufgetreten war. General OToole kam schwankend auf die Beine und trat neben die inzwischen verzweifelte Nicole. Das Skalpell hatte zu große Verheerung angerichtet. Vor ihren Augen verblutete der Missionskommandant. »Oh, nein. Oh, mein Gott«, sagte OToole, als er den zerfetzten Leib seines Freundes besah. Das hartnäckige Piepsen ging weiter. Und jetzt erklangen zusätzlich noch die Warnsignale des Lebenserhaltungssystems am OP-Tisch. Francesca erlangte das Bewusstsein gerade rechtzeitig, um die letzten zehn Sekunden im Leben Valerij Borzows aufzuzeichnen.
Für die gesamte Newton-Besatzung wurde es eine sehr lange Nacht. In den zwei Stunden unmittelbar nach der Operation durchlief Rama eine Sequenz von weiteren drei Manövern, die jeweils wie das erste zwei, drei Minuten dauerten. Von der Erde kam schließlich die Bestätigung, dass sich durch diese Manöver die Stellung, Umdrehung und der Orbit des fremden Raumschiffes verändert hätten. Niemand konnte mit Bestimmtheit den genauen Zweck dieser Manöverkombination angeben; es waren bloß »Orientierungsveränderungen«, welche die Neigung und Apsidenlinie des Rama-Orbits verändert hatten. Hingegen war die Energie der Flugbahn nicht signifikant verändert worden - Rama befand sich noch immer auf einer hyperbolischen Fluchtbahn in Bezug auf die Sonne.
Alle an Bord und auf der Erde reagierten wie betäubt auf den plötzlichen Tod General Borzows. Die Nachrichtenmedien aller Länder brachten rühmende Nachrufe, und Kollegen und Mitarbeiter priesen seine zahlreichen Leistungen. Sein Tod wurde als Unfall dargestellt, verursacht durch die unerwarteten Bewegungen des Rama-Schiffes während einer Routineoperation am Blinddarm. Aber acht Stunden später begannen überall sachkundige Leute unangenehme Fragen zu stellen. Warum hatte sich Rama genau in diesem Moment bewegt? Wieso hatte das Fehler-Schutz-System von RoSur versagt und die Operation nicht abgebrochen? Wieso waren die Mediziner, die den Operationsverlauf überwachten, nicht in der Lage, den Apparat abzuschalten, ehe es zu spät war?
Die gleichen Fragen stellte sich auch Nicole des Jardins. Sie hatte bereits die bei einem Todesfall im Weltraum erforderlichen Dokumente erstellt und Borzows Leiche in einem Vakuumsarg am Ende des gewaltigen Vorratdepots des Militärschiffs verstaut. Sie hatte sich beeilt, ihren Bericht über den Zwischenfall zu diktieren und zu speichern; OToole, Sabatini und Tabori hatten dies gleichfalls getan. In den Berichten gab es nur eine einzige signifikante Abweichung: Janos hatte es unterlassen zu vermerken, dass er versucht hatte, den Kontrollkästen zu erreichen. Nicole fand diese Unterlassung momentan nicht weiter bedeutungsvoll.
Die zwangsläufigen Telekonferenzen mit der ISA-Behörde gestalteten sich als potenzierte Quälerei. Und Nicole war dazu ausersehen, die Hauptlast all der ständig wiederholten stupiden Fragen zu tragen. Mehrmals musste sie all ihre Reserven an Kraft aus ihrem Innern heraufholen, um nicht die Geduld zu verlieren. Sie hatte auch eigentlich damit gerechnet, dass Francesca bei der Telekonferenz Anspielungen auf ein Versagen des Newton-Ärzte-Teams machen könnte, aber die italienische Journalistin lieferte eine faire, ausgewogene Reportage.
Nach einem Kurzinterview mit Francesca, in dem sie ihr Entsetzen schilderte, als sie den blutgefüllten Operationsschnitt Borzows erblickte, zog sie sich in ihren Raum zurück, dem Anschein nach, um zu ruhen oder zu schlafen. Doch Nicole gönnte sich den Luxus der Entspannung nicht. Wieder und immer wieder ließ sie im Geist die kritischen Sekunden der Operation vor sich ablaufen. Hätte sie irgendetwas tun können, das Schreckliche zu verhindern? Und wo gab es möglicherweise eine Erklärung dafür, dass RoSur sich nicht automatisch abgeschaltet hatte?
Für einen Konstruktionsfehler in RoSurs eingebauten Irrtumsschutzalgorithmen sah Nicole kaum eine Möglichkeit; das Gerät hätte kaum alle die rigorosen Tests vor dem Start
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