Rendezvous mit Übermorgen
als setzte sie zum Sprung an. Das Mädchen sang immer noch leise weiter und ging weiter auf das Tier zu. Als Nicole völlig aus dem Wasser heraus und nur noch etwa fünf Meter von ihr entfernt war, machte die Löwin einen Satz zur Seite und verschwand zwischen den Bäumen. Und Nicole ging weiter. Das Schlaflied beruhigte sie und verlieh ihr gleichzeitig Kraft. Kurz danach befand sie sich wieder draußen am Rand der Savanne. Bei Sonnenaufgang hatte sie den Brackwassertümpel wieder erreicht und legte sich im hohen Gras nieder und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf. Omeh und die anderen Senoufo-Priester fanden sie dort, halbnackt und tief schlafend, als die Sonne hoch am Firmament stand.
Sie erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei sind es schon fast dreißig Jahre her, dachte Nicole, immer noch wach auf ihrer schmalen Matratze an Bord der Newton. Und was ich da gelernt habe, hat nie aufgehört, für mich wertvoll zu sein. Sie dachte an ihr Selbst, dieses kleine siebenjährige Mädchen vor so langer Zeit, das in einer völlig fremdartigen Welt ausgesetzt wurde und es fertigbrachte, zu überleben. Also wieso zerfließe ich jetzt vor Mitgefühl mit mir selber! Das damals war doch eine viel aus sichtslosere Situation!
Das Eintauchen in ihre Kindheitserfahrung hatte ihr unerwartete Kraft geschenkt. Sie war nicht mehr niedergeschlagen. Ihr Kopf funktionierte wieder blitzschnell und arbeitete an einem skizzenhaften Plan, wie sie die entscheidenden Antworten, die richtige Erklärung darauf finden könnte, was im Verlauf der Operation General Borzows geschehen war. Sie war das Gefühl des Alleingelassenseins los.
Ihr war klar, dass sie beim ersten Ausstieg an Bord der Newton bleiben musste, wenn sie eine umfassende und gründliche Analyse der Umstände von Borzows Tod vornehmen wollte. Sie beschloss, am nächsten Morgen mit David Brown oder Admiral Heilmann über die Sache zu sprechen.
Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein. Und während sie in die Dämmerwelt zwischen Wachen und Schlaf hinüberglitt, summte Nicole eine Melodie vor sich hin. Es war das >Wiegenlied< von Johannes Brahms.
21 Der Würfel der Pandora
Nicole sah David Brown hinter dem Desk sitzen. Francesca beugte sich über ihn und zeigte auf etwas auf einer großen Karte, die vor ihnen lag. Nicole klopfte an die Tür des Kommandantenraums.
»Ach, hallo, Nicole«, sagte Francesca, die ihr die Tür öffnete. »Was können wir für Sie tun?« »Ich wollte mit Dr. Brown sprechen«, antwortete Nicole. »Über meinen Auftrag.«
»Kommen Sie doch rein«, sagte Francesca.
Nicole schob sich langsam durch die Luke und setzte sich auf einen der beiden Stühle gegenüber dem Tisch. Francesca nahm im anderen Platz. Nicole warf einen Blick auf die Wände. Da hatte sich eindeutig etwas geändert. Die Fotos seiner Frau und seiner Kinder, die General Borzow dort angebracht hatte, waren verschwunden. Ebenso ein Lieblingsgemälde, die Abbildung eines einsamen Vogels, der mit weit gespannten Schwingen über der Newa in Leningrad kreiste. Nun hingen dort große Programmkarten. Sie trugen alle verschiedene Titel (Erster Ausstieg, Zweiter usw.) und bedeckten die seitlichen Informationsborde von einem Winkel zum andern.
Borzows Büro hatte etwas von seiner warmen Persönlichkeit ausgestrahlt. Jetzt war der Raum eindeutig steril und beängstigend. Dr. Brown hatte hinter seinem Schreibtisch kunststoffbeschichtete Kopien zweier seiner hervorragendsten internationalen Preisurkunden angebracht. Er hatte außerdem den Sitz seines Stuhls erhöht, sodass er auf alle anderen im Raum, sofern sie saßen, herabblicken konnte.
»Ich komme in einer persönlichen Angelegenheit zu Ihnen«, sagte Nicole und wartete ein paar Sekunden, weil sie damit rechnete, dass Dr. Brown Francesca bitten würde, sie allein zu lassen. Er sagte nichts. Schließlich warf Nicole Francesca einen Blick zu, um ihre Bitte zu verdeutlichen.
»Sie hilft mir bei den administrativen Aufgaben«, erklärte David Brown. »Ich habe festgestellt, dass ihre weibliche Intuition oft Signale auffangt, die ich ganz und gar übersehen habe.«
Nicole blieb weitere fünfzehn Sekunden lang stumm sitzen. Sie war darauf vorbereitet, mit David Brown zu sprechen. Auch noch Francesca alles erklären zu sollen, damit hatte sie nicht gerechnet. Vielleicht sollte ich einfach gehen. Aber es war nur ein flüchtiger Einfall. Dennoch erstaunte es sie ein wenig, dass Francescas Anwesenheit sie zu reizen
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