Rendezvous um Mitternacht
die sie in den Bienenstöcken versteckt hatte. Im Ort dachten alle, sie käme so gerade über die Runden, indem sie ihren Honig auf den Märkten in der Gegend verkaufte. In Wirklichkeit war das nur Fassade. Sie und Andrew hatten ein Mordsgeschäft am Laufen. Sie brannte den Gin und von Zeit zu Zeit auch ein bisschen Whiskey, und bei Nacht und Nebel schleppten sie und ich die Fässer, auf denen ›Honig‹ stand, durch den Wald bis zu einem Baum nicht weit von Andrews Prunkvilla.«
»Wie lange ging das so?«, fragte Steven.
»Bis sie 1974 starb. Da war ich gerade siebzehn geworden. Gar nicht lange danach sind dann Sie aufgetaucht – etwa ein, zwei Jahre später.« Sie deutete lässig auf ihn.
»Sie wussten von mir?«
»Klar doch. Ihr Großvater hat ständig von Ihnen gesprochen.«
»Dann hat er Sie öfter besucht?« Ich bemerkte, wie weich Stevens Stimme wurde.
»Mehrmals in der Woche. Er hat immer Blumen auf Moms Grab gelegt, einen Tee mit mir getrunken und ist wieder in den Wald verschwunden. Mit den Jahren kam er seltener, aber ab und zu hab ich ihn noch gesehen, wie er Blumen auf das Grab legte. Daher wusste ich, dass er immer noch an sie denkt.«
In dem Moment spürte ich wieder einen Zug in der Magengrube und fing einen merkwürdigen Gedanken auf. Es klang wie Sag das mit dem Ball …, und im Geiste sah ich einen Weihnachtsbaum. Ich sah Mirabelle an. »Was war mit dem Weihnachtsball?« Ich dachte, es hätte vielleicht mit einem besonderen Geschenk zu tun, das sie als Kind zu Weihnachten bekommen hatte, und Maureen wollte, dass sie sich daran erinnerte.
Mirabelles Reaktion überraschte mich – sie starrte mich so feindselig an, als wollte sie mich schlagen. Dann sagte sie: »So, Sie haben also gehört, wie sie starb?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Entschuldigung. Wahrscheinlich sollte ich das erklären. Ich bin ein Medium, also jemand, der mit Geistern sprechen kann. Und gerade im Moment steht Ihre Mutter dort in der Diele hinter Ihnen und bittet mich, Ihnen auszurichten, dass Sie uns etwas über irgendeinen Ball erzählen sollen, der was mit Weihnachten zu tun hat.«
Ich rechnete Mirabelle hoch an, wie ungerührt und kommentarlos sie mein Metier hinnahm. Auf meine Erklärung nickte sie nur und erklärte: »1974 gab Andrew zu Weihnachten eine große Party und lud meine Mutter und mich ein. Ich fühlte mich nicht ganz gesund und beschloss, nicht hinzugehen. Mom wäre deshalb auch fast zu Hause geblieben, aber ich überredete sie, doch zu gehen. Sie hatte sich so über die Einladung gefreut und sich extra ein Kleid dafür gekauft. Ich erinnere mich noch, wie wunderschön sie aussah, als sie sich von mir verabschiedete. Sie stand dort im Türrahmen und warf mir noch einen Kuss zu. Das war das Letzte, was ich von ihr sah.«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Am Morgen nach der Party stand der Sheriff in der Tür. Er sagte, es habe einen schrecklichen Unfall gegeben. Mom sei die Treppe im Jagdhaus heruntergefallen. Nach Zeugenaussagen war sie mit dem Absatz auf der obersten Stufe hängen geblieben. Niemand war schnell genug, um sie abzufangen. Sie brach sich den Hals und war auf der Stelle tot.«
In diesem Augenblick bekam ich einen so kräftigen Schubs von hinten, dass ich vornüber von der Couch fiel und gegen den Tisch stieß. Steven packte mich eilig unter den Achseln. »M. J.! Alles okay?«
»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich ziemlich verlegen. »Ich weiß nicht, was das sollte.« Natürlich war das Maureen gewesen. Aber ich setzte mich rasch wieder hin, zog meinen Pullover zurecht und bedeutete Mirabelle fortzufahren.
»Das ist alles«, sagte sie traurig. »Mom war tot. Ein paar Wochen später kam Andrew zu mir und erklärte, das Haus gehöre jetzt mir. Er erzählte, dass er es samt dem Land drumherum vor vielen Jahren meiner Mutter als Lohn für ihre Dienste überschrieben hatte.«
»Also hat sie ihm den Gin geliefert. Er hat ihn weiterverkauft und ihr dafür das Land überlassen«, fasste ich zusammen.
»Ja.«
»Was war zwischen Ihrer Mutter und meinem Großvater?«, fragte Steven. »Warum steht in seinem Haus ein Bild von ihr?«
Mirabelle errötete leicht und faltete umständlich ihre Serviette zusammen. »Sie hatten lange ein heimliches Liebesverhältnis.«
»Warum heimlich?«, fragte ich neugierig.
»Weil Andrew verheiratet war. Seine Frau blieb die meiste Zeit in Boston – es hieß, ihr gefalle die Gegend nicht. Andrew ging an den Wochenenden gern hier jagen, und dann kam
Weitere Kostenlose Bücher