Renegade
aufgelöst. Als
der Schaum sich dunkelrot färbt, gibt Gavin noch mehr Desinfektionsmittel in
die Wunde. »Warum blutet das immer noch?«, murmelt er vor sich hin. »Der
Blutfluss hätte längst aufhören müssen. Immerhin ist die Verletzung schon viele
Stunden alt.«
Ich ringe mir ein
Lächeln ab. »Na ja, wir haben ihr ja auch nicht gerade viel Zeit gelassen, um
zu heilen.«
Nach ein paar
Minuten â die mir vorkommen wie eine Ewigkeit â verringert sich der Schmerz zu
einem dumpfen Druck. Gavin mustert die Wunde noch einmal eingehend, dann legt
er einen frischen Verband an. »Alles klar?«, fragt er mich.
»Ja.«
»Gut, dann sollten
wir gehen. Ich will endlich raus aus diesem Albtraum.«
Das geht mir dann
doch etwas gegen den Strich, und während er mir auf die FüÃe hilft, hätte ich
ihn am liebsten angefaucht, dass Elysium immer noch besser sei als die
Oberfläche â doch dann schlucke ich die Worte und die unerklärliche Wut runter.
Da es von nun an
keine Rolle mehr spielt, ob wir uns verstecken â immerhin sind wir klatschnass
und unsere Verfolger können uns anhand unserer Tropfspuren sowieso finden â,
bahnen wir uns ganz offen einen Weg durch Sektor Drei. Sowohl über als auch
unter uns befinden sich mehrere Stockwerke, die weitgehend den Blick auf den
Ozean versperren. Zur Orientierung bleibt uns nur die meterhohe Kuppel.
Aber irgendetwas
stimmt nicht. Alles ist vollkommen verlassen. Irgendwann müssen wir doch mal jemandem begegnen. Leck und Evakuierung hin oder her â zumindest
Vollstreckerinnen und Wachen sollten hier sein und dafür sorgen, dass niemand
zurückkommt, bis das Leck repariert ist. Und was ist mit den Arbeitern, die das
Leck schlieÃen sollen?
Wir biegen um eine
Ecke, um zu den Fahrstühlen zu gelangen. Schockiert bleiben wir stehen. Der
Boden ist mit mehr als einem Dutzend Leichen übersät: Frauen, Männer und
Kinder.
Langsam gehe ich
zwischen ihnen hindurch und sehe sie mir dabei genauer an. Man hat ihnen mitten
in die Stirn geschossen â jedem einzelnen von ihnen. Eine Erinnerung blitzt in
mir auf: Ich richte die Waffe auf jemanden. Und drücke ab.
»Vollstreckerinnen«,
flüstere ich.
»Was? Woher willst
du das wissen?« Gavin kniet neben einer Frau, die ein kleines Kind umschlungen
hält. Ihre toten Augen starren blicklos in die Ferne. Er schlieÃt mit einer
sanften Bewegung ihre Lider und streicht über die weichen Haare des Kleinen.
Dieser Anblick bricht mir das Herz. Wie zart er mit ihnen umgeht, dabei kannte
er sie noch nicht einmal. Und ihre eigenen Mitbürger haben ihnen das angetan.
»Ein Schuss in den
Kopf, das ist eine Hinrichtung. Sie haben den Befehl erhalten, sie schnell und
sauber umzubringen.« Ja, es ging schnell, wenigstens dafür bin ich dankbar. Die
meisten von ihnen haben wahrscheinlich nicht einmal begriffen, was passiert.
Keine Zeit für Angst oder Schmerzen. Wir arbeiten uns weiter vor. Gavin besteht
darauf, dass wir uns jedes einzelne Opfer ansehen, für den Fall, dass es
Ãberlebende gibt. Wir brauchen nicht lange, um zu erkennen, dass das nicht der
Fall ist.
Ein fröhliches
Lachen lässt mich plötzlich herumwirbeln, und ich sehe links von mir Mutters
Hologramm. Bisher wusste ich nicht einmal, dass Sektor Drei für die
Hologrammprojektion ausgerüstet ist. Mit einem schnellen Blick suche ich nach
den Kameras und Projektoren und kann mir ein Seufzen nicht verkneifen, als ich
in einer Ecke unter der Decke die Linsen schimmern sehe.
Mutter klatscht
betont langsam in die Hände und spendet uns spöttisch Applaus. Ein leises
Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Dieser Anblick jagt mir einen Schauer über
den Rücken.
»Cleveres Mädchen,
hast die groÃe Röhre also überlebt. Aber daran habe ich nie ernsthaft
gezweifelt.« Sie breitet die Arme aus. »Gefällt dir dein Willkommensgeschenk,
Liebes?«, fährt sie mit einem perlenden Lachen fort, das meine Gänsehaut weiter
verstärkt.
»Was willst du,
Mutter?« Sorgfältig achte ich darauf, dass der Abscheu, die Wut und die Schuld,
die ich empfinde, sich nicht in meiner Stimme niederschlagen â ich klinge kalt
und emotionslos.
»Ein langes Leben,
Schönheit und Macht. Eine Tochter, die auf mich hört â das Ãbliche eben«, erwidert
sie. Gavin schnaubt höhnisch durch die Nase, doch Mutter würdigt
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