Renegade
Badezimmer. Sobald ich das Wohnzimmer erreiche, lasse ich
mich auf das Sofa fallen und starre vor mich hin. Gütige Mutter! Vor meinem
inneren Auge erscheint wieder dieses Bild: lockiges Haar, muskulöse Brust,
gebräunte, stahlharte Bauchmuskeln. Dieser Bronzeton seiner Haut und â¦
Energisch schüttele ich den Kopf. Darüber sollte ich
nun wirklich nicht nachdenken. Mit einer Hand fächele ich mir Luft zu. Mir ist
so heiÃ, als hätte jemand die Temperatur schlagartig um zwanzig Grad angehoben.
Ich hole das Tagebuch aus meiner Tasche und versuche, mir die Wartezeit mit
Lesen zu verkürzen, es gelingt mir aber nicht, mich zu konzentrieren. Ich kann
an nichts anderes denken als an Gavin.
Plötzlich steht er
im Türrahmen zwischen Wohn- und Schlafzimmer. Hastig stehe ich auf â wie
peinlich, dass er mich dabei erwischt hat, wie ich an ihn denke â, und das
Tagebuch landet mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Er mustert mich mit
einem seltsamen Funkeln in den Augen, dann streckt er mir die Krawatte hin.
»Die werde ich nicht anziehen«, sagt er trotzig.
In dem Outfit, das
ich ihm zusammengestellt habe, sieht er sogar noch besser aus. Ohne es zu
wollen, merke ich, wie meine Beine mich durch das Wohnzimmer tragen. Was mache
ich hier eigentlich? Und warum? Aber ich will es, ich muss es einfach tun. Wild entschlossen stelle ich
mich auf die Zehenspitzen und drücke meinen Mund auf seinen. Völlig überrumpelt
gerät er zunächst ins Taumeln, fängt sich aber schnell wieder. Ich schlinge ihm
die Arme um den Hals, gleichzeitig umfasst er meine Hüften und zieht mich an
sich. Mein Herz schlägt so wild, dass ich nur das Rauschen in meinen Ohren und
unseren keuchenden Atem höre.
In
dem Korridor war es so dunkel, dass ich Timothy nicht einmal sehen konnte, doch
ich wusste, dass er da war. Ich hörte ihn keuchen und spürte seine hastigen
Atemzüge an meinem Gesicht. Seine Hände lagen noch immer auf meinen Wangen.
»Wirst du es ihr sagen?«, fragte er mich.
»Als
Allererstes, gleich morgen früh.« Da war wieder dieses vertraute Kribbeln in
meinem Bauch.
»Vergiss
es bloà nicht!«, ermahnte er mich scherzhaft. Und bevor ich etwas erwidern
konnte, küsste er mich wieder und drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand.
Der kalte Beton lieà mich frösteln, und ich drängte mich dichter an Timothy, um
die Wärme seines Körpers zu spüren.
Ich
schloss die Augen. Kalte Luft streifte mich, und als ich die Augen wieder
aufschlug, befanden wir uns in Mutters Salon. Vor mir stand Timothy, flankiert
von zwei Wachmännern. Ein Auge war zugeschwollen, und aus seiner gebrochenen
Nase tropfte Blut.
Zwei
Kugeln durchschlugen seine Brust und zerfetzten seine Lunge. Während er
zusammenbrach, tauchte die Vollstreckerin, die ihn erschossen hatte, wieder in
den Schatten unter. Doch bevor sie ganz verschwand, hob sie den Kopf und sah
mich an.
Es
war mein eigenes Gesicht, das mir da entgegenblickte.
Entsetzt reiÃe ich
mich los und schlage die Hand vor den Mund. Mir springt fast das Herz aus der
Brust. Das war nicht real. Ich kenne keinen Timothy, und ich habe ihn auch
nicht umgebracht.
Mit einem
erschrockenen Keuchen weicht Gavin zurück. »Tut ⦠tut mir leid. Geht es dir
gut?«
Hastig wende ich mich
ab, damit er nicht sehen kann, dass ich kurz davor bin, in Tränen auszubrechen.
Ich schlucke sie herunter und schlinge die Arme um den Oberkörper, bis ich
sicher sein kann, dass meine Zähne nicht wieder anfangen zu klappern. »Evie?«
Er legt mir sanft die Hand auf die Schulter.
Sofort ziehe ich
mich zurück und gehe zur Tür. »Die Krawatte ist nicht nötig. Du kannst sie
weglassen.«
Gavin mustert mich
noch einen Moment, dann zieht er sich fertig an.
Wenige Minuten
später öffnen wir vorsichtig die gemauerte Tür, die uns vom Rest der Stadt
trennt. Immer wieder taucht diese »Erinnerung« in meinem Kopf auf, doch ich
verdränge sie. Ich kann jetzt nicht versuchen, mich zu erinnern. Jetzt muss ich
mich allein darauf konzentrieren, dass wir nicht getötet werden.
Das Geschäft, dessen
Schaufenster Gavin zertrümmert hat, ist abgesperrt und von einigen Wachen umstellt.
Wir halten uns sorgsam in den Schatten, doch die Männer blicken nicht einmal in
unsere Richtung. Je mehr wir uns wieder dem GroÃen Platz nähern, umso dichter
wird das Gedränge, doch wir schaffen es
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