Renegade
Entschuldigung und will das Glas aufheben.
Mutter, die offenbar mehr als einen Drink hatte, lacht nur. »Lass es liegen. Hol
mir einfach ein neues Glas, ja? Und bring die Flasche gleich mit.« Das
Dienstmädchen entschuldigt sich immer noch, als es aus der Tür stürzt.
Mutter setzt sich an
den Frisiertisch. Ich kann gerade weit genug den Kopf heben, um ihr Spiegelbild
zu erkennen. Sie bürstet ihre Haare und frischt ihr Make-up auf, dann berührt
sie kurz ihren Augenwinkel und streicht anschlieÃend mit demselben Finger über
ein Stück Papier, das am Spiegel befestigt ist. Offenbar ist es ein Foto, aber
ich kann nicht erkennen, wer darauf abgebildet ist.
»Du hast mich also
auch verlassen«, flüstert sie.
Dann schlägt sie so
fest mit der Faust auf den Frisiertisch, dass einer der Parfumflakons
herunterfällt. Erschrocken zucke ich zusammen. Das Fläschchen zerbricht, und
der Geruch nach Maiglöckchen breitet sich im Zimmer aus. Abrupt steht Mutter
auf und kniet sich hin, um die Scherben aufzuräumen.
Sie hat erst wenige
Bruchstücke eingesammelt, als sie sich plötzlich erhebt und sie alle mit voller
Wucht zu Boden schleudert. Sie zerbrechen in feinste Scherben, die wild durch
die Gegend fliegen. Dann steht Mutter auf und beginnt zu schreien, Worte, die
ich nicht verstehe, weil das erneute Geräusch von splitterndem Glas alles
übertönt. Sie wirft mit Dingen um sich; eine weitere ihrer Parfumflaschen
zerbirst ganz in meiner Nähe, und die Scherben schneiden mir in Gesicht und
Arme. Der Alkohol in der Flüssigkeit brennt wie Feuer, aber ich beiÃe mir auf
die Zunge und unterdrücke einen Schmerzensschrei.
Als ihr
Tobsuchtsanfall endlich abklingt, ist der Boden mit den Ãberresten der
Dekoration und einiger Möbel übersät. Mein Herz pocht so laut, dass Mutter es
fast schon hören müsste. Und trotzdem erkenne ich an ihrem angestrengten Atem,
dass sie weint.
Das Dienstmädchen
kommt zurück und bleibt völlig perplex in der Tür stehen. »Ach du meine Güte!
Was ist denn hier passiert?« Hastig geht sie zu Mutter, und ich rechne fest
damit, dass die nun völlig ausflippen wird. Dann zögert das Dienstmädchen, und
ich höre, wie es erschrocken Luft holt. »O nein, Mutter, du hast dich
geschnitten.«
»Es ist nichts, nur
ein kleiner Kratzer von einer Parfumflasche.« Dann sagt sie mit brechender
Stimme: »Lass nicht zu, dass jemand das sieht. Ich kann nicht zulassen, dass
jemand das sieht!«
»Bestimmt nicht,
Mylady. Ich werde mich persönlich um das Zimmer kümmern.«
»Das alles ist
Evelyns Schuld. Sie hat mich verlassen wegen eines Oberflächenbewohners .
Immer wollen sie alle fort !«
»Ich weiÃ, Mutter.
Und das nach allem, was du für das Kind getan hast. Nachdem du sie nach ihrem
Versagen gerettet hast, ihr die Chance gegeben hast, etwas ganz Besonderes zu
sein. Komm, wir bringen dich zu Dr. Friar. Er weiÃ, was zu tun ist â¦Â«
Die Stimme des
Dienstmädchens verklingt, als sie und Mutter das Zimmer verlassen.
Mir schwirrt der
Kopf. Was in Mutters Namen hatte das zu bedeuten?
Was
als brillanter Gedanke in Mutters Kopf
begann, wurde zu all dem, was ihr heute in unserer wundervollen Stadt kennt und
liebt.
Mutter
erschuf Elysium, damit sie und ihresgleichen in
Frieden leben können, weit weg von der Habgier und der Intoleranz, die an der
Oberfläche wüten.
Auszug
aus einem Geschichtsbuch, Jahrgang 5 â
Nachdem sie
gegangen sind, bleibe ich noch eine Weile unter dem Bett liegen. Ruhig zu atmen
fällt mir schwer. Es vergehen mehrere Minuten, bis ich mich sicher genug fühle,
um aus meinem Versteck hervorzukommen. Doch dann bin ich fassungslos â ich habe
zwar gehört, wie sie gewütet hat, mir war jedoch nicht klar, wie schlimm.
Alles, was man in
die Hand nehmen konnte, hat sie zerstört. Der Boden ist mit Glasscherben und
Holzsplittern bedeckt. Ihre wertvollen, mit Edelsteinen besetzten Flakons
liegen alle völlig zertrümmert auf dem Boden oder dem Frisiertisch. Ãberall
sehe ich bunte Splitter, sie hängen sogar in meinen Haaren. Ihre Porzellanpuppen
â ihr kostbarster Besitz â sind ebenfalls zerbrochen und wirken wie die
Kriegsopfer aus dem Film von der Oberfläche, den ich mir in Mutters Vorbereitungsunterricht
für mein Amt als Tochter des Volkes ansehen musste.
Nach einem kurzen
Blick zur Tür untersuche ich
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