Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
viel Schmerz, Trauer und Wut ihn erfüllt hatten.
23
Sie genoss das tröstende Gefühl, das der Kinderkörper ihr schenkte. So weich, so zart. Liebevoll drückte sie ihn an sich, während sie leise wisperte: Ich weiß, was du gelitten hast. Niemand sollte so allein sein müssen. Niemals! Doch nun ist es vorbei. Schsch, ganz leise, ganz ruhig. Gleich wirst du schlafen, und wenn du aufwachst, wirst du Frieden haben und Tränen und Traurigkeit auf immer vergessen. Ach mein Liebling, ich wünschte, ich könnte mit dir gehen. Aber wer weiß … vielleicht komme ich ja bald.
Sie liefen vor der Tür des Lehrmittelraumes ineinander.
„Guten Morgen, willst du etwa auch kopieren?” fragte Beate, die ein mit großen Buchstaben beschriebenes Blatt in der Hand hielt. In wenigen Minuten würde es zur ersten Stunde schellen, und der Fotokopierer war alt und langsam.
„Morgen, ja, ich brauche dieses Übungsblatt unbedingt in der ersten Stunde, kann ich zuerst?” Und schon lag Helgas Original auf dem Gerät.
„Äh ja, natürlich, mach nur. Ich kann äh … auch mit … mit Mathematik anfangen.”
Während die Kopien zögerlich in den Auffangkasten fielen, betrachtete Helga die Kollegin. Ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben, nutzte sie deren Gutmütigkeit wieder einmal aus. Beate lehnte an einem Bücherregal und hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt. Ihre Kopiervorlage hatte sie neben sich auf einen Stapel Liederbücher gelegt.
„Was ist los? Warum siehst du mich so an?” Bevor Helga antworten konnte, redete sie schon weiter: „Meine Hände darfst du nicht beachten. Ich war gestern im Garten.” Und tatsächlich konnte man unter den Nägeln noch schwarze Ränder erkennen. Beate spreizte ihre Finger, betrachtete sie von allen Seiten und meinte traurig: „Das muss wohl auswachsen, selbst mit Scheuerpulver bekam ich die Gartenerde nicht richtig weg. Ich habe Unkraut rausgezogen und Rosen umgepflanzt. Eigentlich sollte man das ja im Herbst tun, aber ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Rosen vor dem Haus besser zur Geltung kommen würden als hinten im Garten. Außerdem erhalten sie dort mehr Sonne. Und mit Handschuhen kann ich nun mal nicht arbeiten.”
„Ich wusste gar nicht, dass du einen Garten hast.”
„Nur einen kleinen, vor und hinter dem Haus. Ich wohne in einem der Reihenhäuser in der Saarlandstraße.”
Helga kannte die schmalen Häuschen. Das Neubaugebiet grenzte mit einer Seite an den Westpark. Kein Wunder, dass Beate dort regelmäßig spazieren ging.
„Darum beneide ich dich, ich kann lediglich auf meinem Balkon ein paar Blumen und Kräuter züchten. So, ich bin fertig. Vielleicht schaffst du noch einen Klassensatz bis zum Schellen.” Und schon lief sie zum Lehrerzimmer hinüber, wo große Aufregung zu herrschen schien. Laute Stimmen drangen durch die offene Tür in den Flur hinaus. Helga trat neugierig näher.
„Was ist denn hier los?”
Sie waren alle da, Elli Goppel stand wild gestikulierend am Fenster, ihr gegenüber Linda Kolczewski, die sich vergeblich bemühte, zu Wort zu kommen, Volker Reiser hockte auf der Tischkante neben Frau Schnoor, die in sich zusammengesunken im Sessel hing, Frau Steinhofer und Frau Meierfeld saßen nebeneinander am hinteren Tischende und umklammerten ihre Thermoskannen so fest, dass man die weißen Knöchel sah, während Frau Stellmann mit blassem Gesicht an der Heizung lehnte. Der Rest drängelte sich am Kühlschrank. Jemand hatte Kümmel und Gläser herausgeholt, doch niemand trank. Jetzt redeten sie gemeinsam auf Helga ein.
„Haben Sie es noch nicht gehört?”
„Es ist wieder ein Mord passiert!”
„Im Westpark wurde eine Leiche gefunden.”
„Angeblich ein Kind unserer Schule.”
„Ist das nicht entsetzlich!”
„Und die Polizei ist machtlos.”
Vergeblich versuchte Rektor Raesfeld den Tumult zu durchdringen: „Bitte, mäßigen Sie sich und gehen Sie in Ihre Klassen! Meine Damen! Herr Kollege! Es hat doch schon geschellt! Die Kinder warten! Bitte!”
Hilflos rang er die Hände, heute Morgen achtete niemand auf ihn. Jeder kannte andere Gerüchte, die er nun weitergab. Eltern hatten Polizeiwagen am Park stehen sehen und sich daraufhin telefonisch oder persönlich in der Schule gemeldet. Genaues wusste jedoch niemand. Bis Frau Kolczewski sich Gehör verschaffte: „Es kann sich nur um Marcel Wohman aus meiner Klasse handeln. Gestern Abend hat seine Mutter mich noch angerufen, um mir zu sagen, dass er vermisst
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