Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
Vergangenheit jedes Einzelnen zurückgehen müssen, um den Ursprung zu finden.”
Ohne seine Worte zu beachten, setzte sie ihren Gedankengang fort. „Es muss aber doch einen Auslöser geben. Ich meine, warum tötet er gerade jetzt? Warum hat er es nicht früher getan?”
„Richtig.” Kersting stieß ein Knurren aus, das sowohl Zustimmung als auch Gereiztheit bedeuten konnte. „Polizeiarbeit ist eben nicht so einfach wie viele es sich vorstellen.”
Sie ging über den Seitenhieb hinweg.
„Was ist mit Lembert?”
„Hat ein Alibi und kein Motiv.” Er seufzte, dann machte er sich über das Omelett her. Helga öffnete einen trockenen Riesling, goss zwei Gläser voll und setzte sich zu ihm an den Tisch. Eine Weile blieb es still.
„Manchmal glaube ich, in jedem von uns lebt irgendwo tief drinnen eine Bestie, die nur durch die dünnen Fesseln der Zivilisation im Zaum gehalten wird”, meinte sie nachdenklich. „Wenn ich mir vorstelle, was ich am liebsten mit dem Kerl machen würde, erschrecke ich vor mir selbst.”
„Der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn ist arg schmal. Denk nur an all die Genies, die im Wahnsinn endeten. Und manchmal ist es nur ein winziger Schritt zum Verbrechen.” Während er zum Weinglas griff, fuhr Helga langsam und nach den richtigen Worten suchend fort: „Was ist das eigentlich, was mich davon abhält, mir zu nehmen, was ich möchte? Zum Teil ist es natürlich die Angst vor Strafe, aber das ist der geringere Teil. Was ist der Rest? Erziehung? Gewissen? Warum funktioniere ich und der andere nicht?”
„Hauptsächlich liegt es wohl an der Erziehung und der Umwelt in der Kindheit – meinen jedenfalls die Psychologen. Doch dir genügt das nicht, oder?”
Sie antwortete bereitwillig auf seine Frage, als habe sie schon länger auf eine Gelegenheit gewartet, mit jemandem darüber zu sprechen. „Nein, ich denke der Mensch ist insgesamt weitaus vielschichtiger angelegt, als die meisten von uns wahrhaben wollen.” Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich einen Ruck gab und fortfuhr: „Ich möchte verstehen, wie ein Charakter sich formt und funktioniert, wa-rum der Egoismus in unserer Gesellschaft zunimmt, während gleichzeitig die alten Werte verfallen, warum Frauen sich Kinder wünschen und sie anschließend vernachlässigen. Was ist aus dem vielbeschworenen Mutterinstinkt geworden? Warum kommt er so häufig nicht zum Tragen? Eine Art Unfall der Natur, ein genetischer Defekt, eine Krankheit, oder wurde er aberzogen?”
„Das interessiert dich wirklich, nicht wahr?” Aufmerksam schaute er sie an, bevor er die letzten Reste seines Omelettes zusammenkratzte und verspeiste.
„Ja, denn ich glaube, dass Kinder, die keine Liebe kennen gelernt haben, später auch keine Liebe geben können und unfähig sind, eigene Kinder zu erziehen. Auf diese Weise wird unsere Welt nicht nur immer kälter, auch das Böse nimmt immer mehr zu. Sieh mal, einige Eltern kann ich zwar nicht entschuldigen, aber verstehen, arbeitslose Väter zum Beispiel, die plötzlich nicht mehr als Herr im Haus respektiert werden, ihre Zurücksetzung nicht verkraften können und anfangen zu trinken und zu prügeln. Aber warum bleiben die Frauen bei ihnen? Warum lassen sie es zu, dass ihre Kinder bedroht und geschlagen werden? Wie kommt es, dass vielen Frauen Männer wichtiger sind als ihre eigenen Kinder? Und was ist mit den Vätern, die ihre Töchter vergewaltigen? Oder den Müttern, die es geschehen lassen? Dafür finde ich keine Erklärung. Menschen werden doch nicht bösartig geboren?”
„Es gibt viele Antworten, je nachdem ob du einen Psychologen, Theologen oder Biologen fragst.”
„Diese Antworten kenne ich auch”, unterbrach sie ihn ungeduldig. „Aber sie genügen nicht, nicht wirklich. Sie verhindern nicht, dass Ähnliches immer wieder geschieht. Außerdem wissen viele, dass das, was sie tun falsch ist und tun es trotzdem. Warum? Warum werden so viele Kinder beiseite geschoben, geschlagen, misshandelt und missbraucht?”
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist die Antwort wirklich Sache der Theologen.”
Beide schwiegen, bis die Stille unbehaglich zu werden drohte. Da schob er den Teller zurück, stützte die Ellbogen auf, legte das Kinn auf die verschränkten Hände und sagte betont fröhlich: „Lass uns den weiteren Abend ohne philosophische oder psychologische Diskussionen genießen, hm?”
Sie verstand seinen Wunsch nach Ablenkung nur zu gut. Früh genug würde er sich wieder den Problemen
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