Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
verändert hat”, sagte sie nachdenklich. „Früher habe ich immer nur das Gute in meinem Gegenüber gesehen, fand für fast alle Verhaltensweisen Erklärungen und Entschuldigungen. Und jetzt, jedes Mal, wenn Väter oder ältere Geschwister meiner Kinder mit mir sprechen, frage ich mich, könnte der es getan haben? Ich bin misstrauisch und hinterhältig geworden. Rücksichtslos frage ich die Kinder aus, dränge mich in Familienangelegenheiten hinein, die mich gar nichts angehen.”
„Das bringt Verbrechen mit sich. Es zerstört den Frieden, rüttelt auf, hinterfragt deine Wertvorstellungen.”
Sie hatte das Gefühl, er habe eigentlich noch mehr sagen wollen. Doch eine Prügelei, die Helga nicht ignorieren durfte, beendete die Unterhaltung. Nach einem innigen Blick, der in beiden äußerst angenehme Erinnerungen wach werden ließ, hob Kersting verabschiedend eine Hand, und Helga lief schimpfend zu den Schlägern hinüber.
Es ging bereits auf drei Uhr zu, als sie endlich nach Hause kam. Kaum hatte sie die Schultasche auf den Schreibtisch geworfen, klingelte das Telefon. Nein, sie würde nicht abheben. Sie lechzte nach einer großen Tasse Kaffee und einem Essen, das nicht vorbereitet werden musste. Wieder einmal wühlte sie im Tiefkühlfach. Doch das Telefon gab keine Ruhe. Nachdem das Klingeln für Sekunden ausgesetzt und dann wieder begonnen hatte, gab Helga entnervt auf.
„Hallo, ich bin’s!” Natürlich Ali, wer sonst? „Wo steckst du nur die ganze Zeit? Veronika ist schon seit Stunden zu Hause.”
Helga ließ ihren Ärger deutlich hören. „Nachdem Veronika Schulschluss hatte, musste ich noch zwei Stunden unterrichten. Anschließend habe ich mich mit unserem Hausmeister unterhalten. Was willst du?”, schloss sie ziemlich abrupt.
„Kannst du kommen? Ich mag die Kinder nicht schon wieder bei Freunden oder Nachbarn abladen. Die habe ich in letzter Zeit viel zu oft in Anspruch genommen. Und ich muss dir einiges erzählen!” Das klang verheißungsvoll, und wortlos verabschiedete Helga sich von aufgewärmtem Tiefkühlgulasch. „In Ordnung, wenn du eine große Kanne Kaffee kochst und ’ne Schnitte Brot bereitstellst.”
„Ich schiebe den Rest Gemüsesuppe in die Mikrowelle”, versprach Ali. „Los, beeil dich!”
Um diese Zeit würde es noch keine Probleme mit einem Parkplatz geben, dachte die Lehrerin und stieg ergeben wieder ins Auto.
„Ach du grüne Neune! Wie siehst du denn aus?” Perplex trat sie einen Schritt zurück und wäre beinahe über die breite Stufe vor Merklins Haustür gestolpert. Die Ursache ihrer Verblüffung grinste übermütig. Alis früher schulterlange, mit grauen Strähnen durchsetzte blonde Locken leuchteten jetzt feurig rot und waren modisch kurz geschnitten. Die Brille mit dem bunten Rand fehlte, stattdessen klimperte sie mit überaus langen Wimpern, um einen verführerischen Blick aus Blausilber umrahmten Augen bemüht.
„Ich war beim Frisör.”
Diese absolut überflüssige Bemerkung ließ Helga in hilfloses Gekicher ausbrechen.
„Das ist nicht zu übersehen! Aber warum?”
„Na?” fragte Ali gedehnt und lehnte sich an die Hauswand. „Was glaubst du wohl?” Mit spitzem Mund blies sie einen Rauchkringel in die Luft, während sie ein Bein anwinkelte, so dass der Rock ein Stück höher rutschte.
„Hm, die Kleidung stimmt nicht, viel zu brav.” Helga kicherte immer noch. „Der Rock ist zu lang und die Bluse zu weit. Außerdem musst du schon mehr als nur einen Knopf öffnen.”
„Null Problemo.” Großartig winkte Ali mit einer Hand ab. „Hauptsache ist doch, dass mein Besuch erfolgreich war! Und das war er.” Damit gab sie ihre Pose auf und den Weg in die Wohnung frei.
„Sag mal”, erkundigte Helga sich übertrieben höflich, „könnte es sein, dass du überschnappst? Falls du nämlich in dem Aufzug wieder zu den Huren willst, rufe ich die Männer mit den weißen Kitteln und den Hab-mich-lieb-Jacken.”
„Ich bin zwar neugierig, aber nicht blöd! Hör also mit dem Unsinn auf und komm rein!” Helga folgte Ali in die große Diele. Durch das bis zur Decke reichende Fenster fiel helles Licht auf dunkles Parkett. Das Interieur wirkte teuer und gediegen. Helga hätte sich gern länger umgesehen, besonders der chinesische Seidenteppich interessierte sie, der neben dem Spiegel hing, doch Ali komplimentierte sie in die Küche. Offenbar hatte sie den Teller mit Suppe in die Mikrowelle geschoben, bevor sie die Haustür öffnete, denn kaum hatte Helga
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