Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
kümmern. Wir schaffen das schon – irgendwie.” Damit legte er einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Für ein paar Sekunden bildeten die zwei eine Einheit, bis sie sich von ihm löste und leise bat: „Zieh dich an! Wir haben Besuch!”
„Das macht doch nichts. Sie ham doch Verständnis, oder?”
Helga nickte. „Möchten Sie über Marcel reden?” fragte sie sanft die Mutter.
Von Schluchzern unterbrochen erzählte diese nun, wie wenig Zeit sie für den Jungen hatte erübrigen können, da sie doch arbeiten musste.
„Was sollte ich denn tun? Nach dem Auszug besaß ich nichts, absolut nichts mehr. Keine Kleidung, kein Geschirr, keine Möbel, nichts! Es ging alles so schnell. Die Polizei war da … und … und … ich bin ins Frauenhaus gegangen für ein paar Wochen, die haben mir geholfen.” Helga verstand. Frau Wohman war nicht die erste Mutter, die dorthin geflüchtet war. „Ich nahm jede Arbeit an, habe geputzt und gepackt und verkauft. Dann traf ich Karl und – na ja …”
Sie lächelte verschämt. „Wir zogen zu ihm. Trotzdem reicht das bisschen Geld vorne und hinten nicht. Haben Sie eine Ahnung, was ein Kind kostet? Dauernd neue Klamotten und die Schulsachen und …!” Wieder begann sie zu weinen. „Er sollte doch nicht zurückstehen. Er wünschte sich so sehr Sportschuhe von … ach, ich weiß den Namen nicht mehr, aber er sollte bekommen, was auch die anderen Kinder haben. Ich wollte nicht, dass er auf etwas verzichten muss, nur weil sein …” Ihre Stimme wurde von Schluchzern geschüttelt.
„Nun wein doch nicht.” Wieder drückte ihr Freund sie an sich, was sie sich wehrlos gefallen ließ. „Ich bin doch bei dir.” Über sein grobschlächtiges Gesicht glitt ein Hauch von Zärtlichkeit. Erst nach einer ganzen Weile schaute sie auf, fischte nach einem neuen Taschentuch und rieb sich die Augen.
„Wissen Sie, ob er mit Sandra und Benjamin gespielt hat?”
„Sandra und Benjamin? Die waren nicht in seiner Klasse, oder?”
„Nein, das waren sie nicht. Ich frage mich nur, warum ausgerechnet diese drei Kinder getötet wurden.”
„Ich weiß nicht”, wiederholte sie, wobei sie sich sichtbar zusammennahm. „Ich glaube nicht, dass er mit ihnen gespielt hat. Das hätte er mir sicher erzählt. Wissen Sie, Marcel war ein sehr schüchterner Junge.”
Ein schüchterner Junge! Es gehörte Mut dazu, eine fremde Frau anzusprechen. Wie allein und einsam musste der Kleine sich gefühlt haben, um seine Schüchternheit zu überwinden. Eine tiefe Traurigkeit überfiel Helga, als sie an all die Kinder dachte, die sich nachmittags auf der Straße aufhalten mussten, weil die Mütter arbeiteten oder einfach ihre Ruhe haben wollten. Bedrückt verabschiedete sie sich von Marcels Mutter und ihrem Freund.
Da sie in dieser Stimmung nicht allein sein wollte, beschloss sie, Ali zu besuchen. Vielleicht hatte die inzwischen neue Ideen , wie es mit ihrer Untersuchung weitergehen könnte.
Die Frühlingssonne hatte in den letzten Tagen an Kraft gewonnen, so dass in den Vorgärten des Neubaugebietes die Tulpen in voller Blüte standen. Eingesponnen in ihren Kummer, bemerkte Helga diese Pracht gar nicht.
Als Ali öffnete, schien sie ebenso niedergeschlagen zu sein wie Helga. „Komm rein. Mir geht’s nicht gut.” Sie trug wieder ihre Brille, und die Haare leuchteten längst nicht mehr so intensiv wie am Anfang der Woche.
„Was ist los?” erkundigte sich Helga beunruhigt.
„Ich weiß einfach nicht, was wir noch tun können!” ,
brach es aus Ali heraus. „Ich fühl mich so verdammt hilflos! Ein Mörder läuft frei herum, ich habe Angst um meine Kinder und keine Ahnung, wie es weitergehen soll!”
Sie gingen in die Küche, wo erst einmal die Kaffeemaschine eingeschaltet wurde. Helga erzählte von ihrem Besuch bei Frau Wohman.
„Und du? Warst du inzwischen bei der Große?”
Aus unerfindlichen Gründen heiterte die Frage Ali auf.
„Ich war bei ihr, war ich, ja.”
Helga legte den Kopf schief, und Ali gluckste: „Die aame Frau is mitte Näafen fäatig, die is ja sso schlecht zuweje.”
Ali lachte laut, als Helga offensichtlich nichts verstand. „Anscheinend warst du noch nie bei Oma Große. Die musst du unbedingt kennen lernen. Sie ist ein Original und gehört zum Viertel wie … wie die Kneipe an der Ecke. Ich glaube, es bereitet ihr Vergnügen, ihren westfälischen Dialekt möglichst breit und überdeutlich zu sprechen. Eine großartige Frau, die ehrlich um die Kinder
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