Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
gewusst aber nicht genügend beachtet haben. Alle drei Kinder waren viel allein. Ihre Mütter kümmerten sich so wenig um sie, dass sie sich nachmittags auf der Straße, auf dem Schulhof oder bei fremden Leuten aufhalten mussten.”
„Ob das von Bedeutung ist? Viele Kinder treiben sich nach der Schule auf der Straße rum. Auch solche, deren Mütter daheim sind. Schließlich kann man die Kurzen nicht einsperren.”
„Lass uns für einen Moment annehmen, dass es eine Rolle spielt. Wir sind sicher, dass der Täter geistig gestört ist. Er tötet Kinder, die anscheinend vernachlässigt werden.” Ali hielt einen Moment inne. „Die Frage lautet dann, warum hasst der Täter Kinder, die allein im Park herumstromern? Kinder, um die sich scheinbar niemand sorgt!”
„Jede Art von Erniedrigung hinterlässt Spuren und ist letztlich genauso schlimm wie körperliche Misshandlung. Er hat in seiner Kindheit Demütigungen erfahren, die er nicht verarbeiten konnte, und im Laufe der Zeit hat sich daraus Hass auf Kinder entwickelt. – Nein, so einfach ist es nicht.” Helga brach ab, sortierte ihre Gedanken. „Wir dürfen nicht vergessen, wie die Kinder dalagen. Da ist einerseits Hass, der zum Töten zwingt, aber auch noch etwas anderes. Mitleid mit dem Opfer oder Bedauern über die Tat, ich weiß es nicht.”
„Alles in allem bedeutet das aber doch, dass der Täter unter einer Vergangenheit leidet, die er niemals freiwillig preisgeben wird.” Ali klang mutlos. Zum ersten Mal fürchtete sie, dass sie und Helga scheitern könnten.
„Noch geben wir nicht auf!”, rief diese entschieden. Sie strahlte Tatendrang aus wie selten zuvor. „Wir können nicht viel tun, aber das Wenige sollten wir gründlich tun. Geh noch einmal zu Frau Große. Ihr verdanken wir die ersten Hinweise auf eine Verbindung zwischen Sandra und Benni. Kann sein, dass sie auch Marcel gekannt hat. Womöglich haben sich alle drei in ihrem Kiosk getroffen. Ich werde mich mit seiner Mutter unterhalten.”
„Wenn du meinst.” Eben noch bedrückt, ließ Ali sich nun mitreißen. „In Ordnung, du hast völlig Recht. Wir dürfen nicht kapitulieren solange der Mörder frei herumläuft. Gleich morgen werde ich Oma Große interviewen.”
24
Wieder war es Freitagnachmittag, als Helga der Wohnung von Frau Wohman entgegen eilte. Wie schon vor vier Wochen, hielt sie auch dieses Mal einen Zeichenblock, Mappen und Schulhefte in der Hand. Nur ungern dachte sie an die Auseinandersetzung mit Linda zurück, als es darum ging ,
ihr, Helga, Marcels Sachen zu überlassen. Linda fürchtete offenbar, dass sich eine Kollegin in ihre pädagogischen Kompetenzen einmischen könnte. Sie schien manchmal wirklich etwas seltsam zu sein. Seltsam? Seltsam genug, um … Stopp! dachte Helga energisch und verhielt unwillkürlich den Schritt. Mühsam versuchte sie, ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Linda war jung und ehrgeizig und tat alles für einen guten Ruf bei Schülern, Eltern und Vorgesetzten. Helga erinnerte sich an eine Auseinandersetzung im Lehrerzimmer, bei der es um Mode und die Kleidung der Lehrerinnen gegangen war. Linda hatte Helga damals vorgeworfen, zu wenig Rücksicht auf die Klientel der Schule zu nehmen. In diesem Umfeld sei es unverantwortlich, sich so elegant zu kleiden wie Helga es tat. Man müsse sich den Müttern anpassen, weil man sonst keinen Kontakt zu ihnen bekäme, hatte Linda lautstark postuliert. Helga hatte es nicht für nötig erachtet, auf diese selbstherrlich vorgetragenen Behauptungen einzugehen.
Heute hatte sie sich, allerdings eher unbewusst, an Lindas Ermahnungen gehalten und Jeans mit dazu passender Lederjacke angezogen.
Im Geiste verglich sie die Damen Linners, Fränzke und Wohman. So sehr sie sich auch unterschieden, besaßen sie doch eines gemeinsam, sie hatten die falschen Männer geliebt und hatten, jede auf ihre Weise, früher oder später, die Konsequenzen gezogen. Ob sie einmal glücklich gewesen waren, die schlampige Fränzke, die schicke Linners und die verhärmte Wohman, oder fühlten sie sich vom Schicksal betrogen? Manchmal, wenn Helga über die Mütter ihrer Schüler nachdachte, schämte sie sich, dass es ihr so gut ging. Und sie fragte sich, warum manche Frauen es nicht schafften, ein eigenständiges und selbstverantwortetes Leben zu führen.
Linda hatte ihr bestätigt, dass Frau Wohman mit einem neuen Partner zusammen lebte, der sich beim letzten Elternsprechtag als Beschützer seiner Freundin und ihres Sohnes
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