Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
trauert.”
„Und?”
„Marcel kannte sie nicht. Der ist nie bei ihr gewesen. Klar, schließlich wohnte er auf der anderen Seite der Schule. – Na ja, wenn es sich um einen Psychopathen handelt, ist es sowieso sinnlos, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Hier, trag die Kaffeekanne ins Wohnzimmer rüber, ich bringe Milch und Zucker mit.”
Derweil Ali Tassen aus dem Schrank holte, ließ Helga sich auf das Ledersofa mit den vielen bunten Kissen fallen, lehnte sich zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ali warf ihr einen schiefen Blick zu und seufzte ebenfalls. Schweigend tranken sie Kaffee und knabberten trockene Kekse. Später unterhielten sie sich über Nebensächlichkeiten wie die anstehende Mathearbeit – Veronika fielen die Divisionsaufgaben schwer – und ob ein Klassenfest am Ende des Schuljahres pietätlos sein würde. Beide fühlten sich unbehaglich bei dem Gedanken, ihre Nachforschungen aufgeben zu müssen. Aber beiden fehlte es an zündenden Ideen. Was verwandelte einen harmlosen Jekyll in einen kindermordenden Hyde?
Es klingelte an der Haustür, und Helga hörte überrascht Ilses Stimme.
„Ich war erst bei Helga, und weil keiner da war, dachte ich, ich versuche es hier.” Sie schien außer Atem zu sein. „Ich nehme an, ihr habt die Zeitungen schon gelesen?”
Mit Westfalenpost und Rundschau unter dem Arm stürzte sie herein. Helga erhielt ihre Zeitung immer erst mittags von einer Nachbarin und hatte heute noch nicht hineingeschaut. Auch Ali war noch nicht dazu gekommen.
„Oh, es gibt Kaffee! Ist noch welcher da?” Amüsiert vermerkte Helga, dass Ilse diesmal nicht auf ihrem geliebten Kräutertee bestand.
„Ich koche frischen. Wie ich Helga kenne, trinkt sie bestimmt noch eine Tasse mit, oder?”
„Ja, sicher!” Gleich darauf wandte sie sich Ilse zu: „Nun erzähl, warum schleppst du die Zeitungen an?”
„Na, wegen der Berichte über die Mordfälle natürlich. Was dachtest du? Hat dein Polizist dir nichts erzählt?”
„Jetzt fang du nicht auch noch an, er ist nicht mein Polizist. Außerdem – was sollte er mir erzählt haben?”
„Offenbar haben sie sich entschlossen, sämtliche Ermittlungsergebnisse der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Hier steht’s!” Und Ilse warf Helga eine Zeitung in den Schoß. Bevor Helga sie aufschlagen konnte, fuhr Ilse fort. „Der kleine Junge muss sich heftig gewehrt haben, er hatte Hautfetzen unter den Fingernägeln.”
„Marcel war stabil gebaut und recht kräftig für sein Alter. Trotzdem … einem erwachsenen Mann wird er kaum Kratzer beigebracht haben”, vermutete Helga.
„Kein Mann! Es handelt sich um eine Täterin.”
„Eine Frau?”
„Die DNA-Analyse hat ergeben, dass es eine Frau gewesen sein muss, die die Kinder ermordete. Es steht alles hier in der Zeitung.”
„Was höre ich da? Eine Frau?” Ali kam mit frischem Kaffee aus der Küche. Ilse nahm die Zeitung wieder auf.
„Klar, hier könnt ihr es selber lesen: Durch die Untersuchung der Hautpartikel steht es außer Frage, dass es sich um eine Mörderin handelt. Bekleidet ist sie mit einem grauen Wollmantel.”
„Stimmt, ich erinnere mich, der graue Wollmantel wurde damals schon bei Sandra erwähnt.” Helga hielt ihre Tasse Ali auffordernd entgegen. Als alle mit Kaffee versorgt waren und Alis Zigarette brannte, fragte sie: „Kann mir mal einer erklären, was es mit dieser Analyse auf sich hat?”
Ilse kannte sich aus. „Da wird das Erbgut untersucht, das sich in jeder menschlichen Zelle befindet und so individuell ist wie der Fingerabdruck. Die einzige Ausnahme bilden eineiige Zwillinge. Es genügt schon ein einziges ausgefallenes Haar, oder auch nur eine winzige Spur von Körperflüssigkeit, Speichel oder Blut, um solch einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen.” Ilse verfiel ins Dozieren wie stets, wenn sie sich einer Sache sicher fühlte. „Für die Analyse werden Teile des Erbmaterials zunächst isoliert und anschließend vermehrt. Entsprechend der natürlichen Zellteilung wird der DNA-Strang wie ein Reißverschluss geöffnet und dann mit Hilfe eines chemischen Kopiermechanismus’ vervielfältigt. Zum Schluss muss nur noch die Reihenfolge der chemischen Bausteine festgestellt werden.”
„Ah ja!”
Das klang nicht so, als ob Ali alles verstanden hätte. Doch weder Ilse noch Helga gingen darauf ein.
„Ein schrecklicher Gedanke, dass eine Frau die Kinder getötet hat.”
„Ich denke, es ist klar, dass der Mörder psychisch krank ist, und warum soll
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