Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
dargestellt hatte. Anscheinend fand Linda ihn dermaßen unsympathisch, dass sie letztendlich doch zustimmte, als die Kollegin ihr den schweren Gang abnehmen wollte.
Frau Wohman zog überrascht die Brauen hoch, lud die Lehrerin aber in die Wohnung ein. Das Wohnzimmer stand voller Möbel. Neben einem Schrank, eindeutig Gelsenkirchener Barock, befand sich ein Sideboard gefüllt mit Nippes; mehrere ausladende Sessel, ein Tisch mit gehäkelten Deckchen, Stehlampe und Servierwagen vervollständigten die Einrichtung.
„Entschuldigen Sie mein Aussehen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, mir schwarze Sachen zu kaufen.” Frau Wohman trug ein kurzes, buntgemustertes T-Shirt zu einer engen Jeans. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und ihre Gesichtshaut erinnerte an die schmutzigen Schneereste der letzten Märztage. Trotz aller Trauer wirkte sie aber längst nicht mehr so vergrämt wie vor einem halben Jahr. Der neue Freund schien ihr gut zu tun. Wie ein Häufchen Elend hockte sie auf dem Sofa, ihre Augen wanderten von Helga zum Fenster, zur Tür und zurück. Sie knetete ein Taschentuch und konnte Helgas Blicken nicht standhalten. Plötzlich brach sie in krampfhaftes Schluchzen aus. Das schulterlange, blondgefärbte Haar mit dem schwarzen Ansatz fiel nach vorn und verbarg einen Teil ihres Gesichts.
„Ich … entschuldigen Sie, aber ich … ich kann es noch gar nicht fassen … warum er? Warum mein Junge? Ich verstehe das nicht! Marcel war doch noch so klein. Immer wieder habe ich ihm gesagt, er soll hier in der Nähe bleiben, niemals weiter gehen als bis zum Schulhof und … und vor allem mit niemandem mitgehen.”
„Es tut mir so Leid! Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für Sie sein muss.” Was für eine Anmaßung, dachte Helga im selben Moment. Niemand, der nicht ähnliches erlitten hatte, vermochte sich einen solchen Verlust auch nur annähernd vorzustellen. Sie fühlte sich schrecklich hilflos, und fast bedauerte sie ihr Kommen.
„Er war so ein guter Junge, hat immer gehorcht, nie gab es Probleme mit ihm.” Tränenüberströmt hob Frau Wohman den Kopf und starrte die Lehrerin an. Ihre Hände zitterten, als sie ihre Augen wischte. Helga kämpfte mit sich. Sie war hier, weil sie mehr über Marcels nachmittägliche Aktivitäten erfahren wollte. Aber sollte sie der Mutter jetzt erzählen, dass ihr Sohn regelmäßig eine Frau Vollmer, Vollmann, oder so ähnlich besucht hatte? Eine Frau, die der Familie völlig unbekannt war! Nein, sie besaß kein Recht, Frau Wohmans Leid noch zu vergrößern, entschied Helga. Also gab sie einen zustimmenden Laut von sich und versuchte, das Gespräch in unverfängliche Bahnen zu lenken. Aus dem Nebenzimmer tauchte ein Mann auf, groß, kräftig, mit schon schütterem Haar, unrasiert und im Unterhemd. Er musterte sie von oben bis unten, wobei seine schmalen Lippen sich zu etwas verzogen, das wohl ein Lächeln sein sollte.
„Mein … äh … Lebensgefährte.” Augenscheinlich war es der Frau peinlich, ihren Freund vorzustellen.
Helga hatte Marcels Vater nur selten gesehen. Sie betrachtete den neuen Freund und fragte sich, ob auch die Wohman zu jenen Frauen gehörte, die immer wieder auf den gleichen Typ Mann hereinfielen. Konnte das der Grund sein, weshalb Marcel nachmittags zu einer Fremden geflüchtet war? Schlug auch der Lebensgefährte unbeherrscht zu, wenn er getrunken hatte? Und hatte Marcel es eher zu spüren bekommen als seine Mutter?
„Tach auch.” Wieder glitt sein Blick über sie. „Sie sind also die Lehrerin? Ist nett, dass Se gekommen sind. Tschuldigung, dass ich so aussehe, habe heute Nacht gearbeitet und bis eben geschlafen.” Er verschwand und kehrte mit einem Becher Kaffee zurück. „Furchtbare Sache das, hatte den Jungen gern.” Er nahm einen kräftigen Schluck. „Ein netter kleiner Kerl, dem brauchte man nichts zweimal zu sagen. Wusste immer, was er zu tun hatte.”
Den Gehorsam hatte sein leiblicher Vater in ihn hineingeprügelt, wusste Helga, die sich an so manches Gespräch erinnerte.
Frau Wohman stützte den Kopf wieder auf ihre Hände, die Schultern bebten. Ächzend ließ der Mann sich neben ihr auf das Sofa fallen und streichelte unbeholfen ihre Wange.
„Was ist mit dem Vater? Besteht noch Kontakt zu ihm?”
„Der lässt nichts von sich hören”, antwortete der Lebensgefährte. „Keine Ahnung, was mit ihm los ist. Zahlen tut er auch nicht. Ist nicht schlimm. Ich habe für Mutter und Sohn gesorgt und werde mich auch in Zukunft um die Frau
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