Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
eine Frau nicht ebenso verrückt sein wie ein Mann? Bei einem Psychopathen spielt das Geschlecht ganz sicher keine Rolle.” Helga wollte gerade Beispiele nennen von Frauen, die ihre Kinder hatten verhungern lassen, da bemerkte sie Alis gequälten Gesichtsausdruck.
„Ich finde es furchtbar, dass eine Frau so etwas tun kann.” Bei Ali machten sich die alten, anerzogenen Wertvorstellungen bemerkbar. Vielleicht lag es auch daran, dass sie selbst Mutter war und ihre Verantwortung ernst nahm. Ilse und Helga zeigten Verständnis und wechselten das Thema.
„Steht noch mehr in der Zeitung?”, fragte Helga.
„Natürlich, ja, beinahe hätte ich es vergessen. Wartet mal, hier irgendwo im Innenteil.” Schnell blätterte Ilse die Seiten um, wobei sie die unwichtigen einfach zu Boden fallen ließ. „Ah ja! Da ist es! Hört zu! Aus den Abdrücken, die die Spurensicherung in der feuchten Erde gefunden hat, schließen die Beamten, dass die Täterin am Boden gekniet und den Jungen eine Weile im Arm gehalten haben muss. Könnt ihr euch das vorstellen?”
Überrascht starrten Ali und Helga auf Ilse, die ihnen den Artikel entgegenstreckte. „Hier, lest selbst.” Beide vertieften sich in die Zeitung, während Ilse hungrig über die restlichen Kekse herfiel.
„Mama! Mama! Franziska hat meine Puppe kaputtgemacht!” Tränenüberströmt stürmte Veronika ins Zimmer, ihre Puppe, nur wenig kleiner als sie selbst, hinter sich herschleifend.
„Komm, zeig mir mal die Puppe, vielleicht können wir sie wieder heil machen.” Ilse wollte Veronika zu sich auf den Sessel ziehen. Doch die wehrte sich mit allen Kräften. „Lass mich! Ich will zu Mama!” Breitbeinig baute sie sich vor Ali auf und forderte: „Du musst mit Franziska schimpfen, die hat mich gehauen und getreten, und meine Olli ist auch kaputt.” Anklagend hielt sie ihre Puppe hoch. Ali erhob sich und nahm ergeben ihre Tochter an die Hand. „Ich glaube, ich sollte im Kinderzimmer mal ein paar deutliche Worte sprechen.” Während Mutter und Tochter den Raum verließen, griff Helga geistesabwesend nach der Puppe, die Veronika auf den Boden hatte fallen lassen. Das Kleidchen zeigte einen breiten Riss, und an einer Seite des Kopfes fehlte deutlich sichtbar eine blonde Haarsträhne.
„Na, das Kleid lässt sich flicken, und das Haar muss nur ein wenig anders gekämmt werden, dann fällt die kahle Stelle kaum auf”, sagte Ilse zu Helga, die noch immer die Puppe im Arm hielt. Diese nickte zwar zu Ilses Worten, schien aber mit ihren Gedanken weit fort zu sein. Die Haut über den Wangenmuskeln spannte sich, wodurch ihr Gesicht hart und streng wirkte. Die grünen Augen starrten blicklos in die Ferne. So entrückt hatte Ilse die Sportkameradin noch nie gesehen.
„Natürlich”, flüsterte Helga plötzlich, „natürlich, so war es! Die arme Frau.” Helga drückte die Puppe kurz an sich und legte sie dann vorsichtig auf den Boden.
„Was ist los? Bist du plötzlich auch verrückt geworden?”, fragte Ilse lauter als gewöhnlich.
Wie aus einem Traum erwachend atmete Helga tief ein.
„Die Mörderin tötet aus Liebe. Sie tut es aus Verständnis und Mitgefühl.”
„Wohl übergeschnappt, was?” Ilse war nicht besonders wählerisch mit ihren Worten, wenn sie sich überfordert fühlte.
„So, im Kinderzimmer herrscht wieder einigermaßen Ruhe.” Ali konnte man die Erleichterung anhören, als sie sich im Sessel niederließ. Irritiert blickte sie von Ilse zu Helga.
„Was ist? Ihr schaut alle beide etwas … ähem … etwas seltsam aus.”
„Helga spinnt”, erklärte Ilse im Tonfall fester Überzeugung.
Die winkte ab. „Lass den Quatsch und hört zu! Ich habe Ali neulich schon erklärt, dass der Täter nicht nur Hassgefühle hegt, sondern dass noch andere Emotionen eine Rolle spielen. Jetzt weiß ich es, sie tötet, weil sie die Kinder liebte. Versteht ihr, sie kniete nieder und hielt die Kinder im Arm, bevor sie sie auf den Boden gleiten ließ. Das tut niemand, der sein Opfer hasst. Und erinnert euch, die Toten lagen da wie aufgebahrt, die Hände auf der Brust gefaltet. Nein, ich bin sicher, die Taten wurden nicht aus Hass oder Wut begangen.”
„Moment! Stopp mal!”, rief Ali. „Das passt nicht zu dem, was du mir über Geisteskranke erzählt hast.”
„Meine Güte, soviel Ahnung habe ich auch nicht. Ich weiß nur das bisschen, was Kersting mir gesagt hat.” Sie zögerte, überlegte. „Mir kam die Idee, als ich die Puppe im Arm hielt, und – sie erscheint mir
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