Renner & Kersting 02 - Mordswut
in den Händen. Derweil säuberte Masowski zwei Tassen. Während Kerstings Blick dem aufsteigenden Schwaden folgte, den die altersschwache Kaffeemaschine mit lautem Geächze ausstieß, klingelte das Telefon. Der Kollege war noch immer mit Spülen beschäftigt.
„Kersting.«
Natürlich kannte er die Stimme am anderen Ende, doch erst als das Gespräch beendet war, war er überzeugt, sie richtig identifiziert zu haben. Seine Stiefmutter. Sechs Jahre jünger als er. Bei dem Gedanken brodelte wieder einmal der Zorn in ihm, den er auf seinen Vater verspürte. Früher, vor dessen Heirat, hatte der Schmerz die Bitterkeit überwogen, doch jetzt empfand er hauptsächlich Zorn. Dass sein Vater Freundinnen hatte, war ihm immer klar gewesen, obwohl er weder darüber nachgedacht noch jemals eine kennen gelernt hatte. Aber die Ehefrau konnte er schlecht ignorieren. Anscheinend versuchte sie jetzt, in Familie zu machen. Jedenfalls hatte sie ihn für morgen Nachmittag zum Kaffee eingeladen. Er ärgerte sich, dass ihm so schnell keine Ausrede eingefallen war, aber in diesem Metier war er wenig geübt. Früher telefonierten sein Vater und er höchstens zu Weihnachten und zu den Geburtstagen. Es existierte ein ungeschriebenes Übereinkommen, dass sie sich gegenseitig so wenig wie möglich belästigten. Und jetzt rief diese Frau an und lud ihn ein. Für sie war sein Kommen gar keine Frage gewesen. Ganz selbstverständlich ging sie davon aus, dass er am Samstag Zeit haben würde. Noch immer fühlte er sich überrumpelt und sprachlos. Er fand keine Worte für ihr Verhalten.
„Was Wichtiges?«, fragte Masowski und kam mit zwei gefüllten Kaffeepötten zum Schreibtisch. Einen reichte er weiter, dann schob er den Ordner beiseite, um sich auf der Kante niederzulassen. Beim Denken hockte er lieber auf der Schreibtischkante als auf einem Stuhl. Seine Behauptung, dass der Blick aus dem Fenster ihn inspiriere, konnte Kersting nicht so ganz nachvollziehen. Er sagte aber nichts, als sich jetzt Masowskis Bauch direkt vor seiner Nase befand. Auf die Frage seines Kollegen schüttelte er den Kopf und hielt die Tasse hoch. Mochte der denken, was er wollte.
Anfangs hatte Kersting Probleme mit der manchmal exzentrischen Art seines jüngeren Kollegen gehabt, jetzt tolerierte er sie, froh, dass der so wenig Neugier zeigte. Über den Anruf hätte er nicht sprechen können. Helga war die einzige, der er von dem komplizierten Verhältnis zu seinem Vater erzählt hatte. Von ihr vermochte er Verständnis und Mitgefühl zu akzeptieren, von einem Kollegen wollte er es nicht. Masowski war inzwischen in der Lage, Kerstings verschlossene Miene zu interpretieren und fragte nicht weiter. Er trank, seufzte genießerisch auf und blickte von seinem erhöhten Platz aus hinaus auf die sich verfärbenden Bäume, deren Blätter von einem leichten Wind davongetragen wurden.
„Mir gefällt auch die trübe Jahreszeit«, meinte er. „Ob wir wohl auch eines Tages wiederkommen wie die Blätter im Frühling?« Kersting hatte sich das Wundern über Masowskis seltsame Gedankensprünge abgewöhnt. Mit Helga hatte er über derartige Themen schon häufiger gesprochen. Sie beschäftigte sich mit den verschiedenen Religionen und kannte sich aus. Aber jetzt war weder Zeit noch Ort, um über philosophische Fragen nachzudenken. Offensichtlich erwartete Masowski auch keine ernsthafte Antwort, denn er sprach schon weiter.
„Die Spurensicherung hat ihre Arbeit beendet, wir haben alle Freunde und Verwandten von Opfer und Verdächtiger vernommen. Es war eindeutig Totschlag. Sie hat etwas erfahren, das sie so wütend machte, dass sie blindlings zustach. Darauf weist auch das corpus delicti hin, das Küchenmesser. Sie nahm, was gerade da war. Wer weiß, vielleicht hatte er noch eine Freundin nebenher, besuchte heimlich Bordelle, oder ist Bigamist, womöglich hat er auch nur das Geld für die Hochzeitsreise verspielt, ist doch egal. Der Fall ist erledigt. Finito!«
Masowski hatte Recht. Vielleicht sollte er es Helga genauso brutal mitteilen, wie sein Kollege es eben geäußert hatte. Eine Trennung im Streit wäre leichter zu ertragen als die Traurigkeit, die ihr Verständnis mitbrachte. Auch er schaute jetzt zum Fenster hinaus. Allmählich wandelte sich der Altweibersommer zum nasskalten Herbst. Die schönen Tage verringerten sich ebenso wie die farbenfrohen Blätter. Der Kalender zeigte Mitte Oktober. Bald begann der November, ein Monat, den er hasste. Alles wurde grau, trüb und
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