Renner & Kersting 02 - Mordswut
fragen. Die wohnen schon lange hier. Vielleicht wissen die etwas. Erster Stock«, fügte sie hilfreich hinzu.
Ali stieg die Treppe hinauf und klingelte bei John. Sie spürte, wie allmählich der alte Unternehmungsgeist zurückkehrte. Sie dachte an den letzten Fall und welche Ausrede da am besten geholfen hatte. Folglich stellte sie sich auch jetzt wieder als Mitarbeiterin der Kirchengemeinde vor, die ehrenamtlich den Bedürftigen half.
„Was wollen Sie denn von Frau Panowitsch?« Die John betonte das ›Sie‹ und musterte verächtlich Alis schicken Mantel. Sie machte keinerlei Anstalten, die unerwartete Besucherin hereinzubitten. Im Gegenteil. Mit ihrem breiten Rücken versperrte sie die offene Tür. Über ihre Schulter blickte Ali in einen engen Flur, dessen Wände mit Kalenderbildern geschmückt waren. Nach drei Minuten gingen die Lampen im Treppenhaus automatisch aus. Ali fühlte sich im Halbdunkel unwohl. Das bisschen Licht, das durch die ungeputzten Fenster fiel, reichte kaum, ihr Gegenüber deutlich zu erkennen.
„Also, was wollen Sie?«, wiederholte die John abweisend.
Ali spürte Erregung in sich aufsteigen. Wie immer wenn es eng wurde, arbeitete ihr Hirn auf Hochtouren. Und so kam ihr auch dieses Mal innerhalb weniger Sekunden der erlösende Einfall. „Ja sehen Sie, so genau weiß ich das auch nicht. Ich bekam nur einen Zettel von unserer Sekretärin, dass Frau Panowitsch um Hilfe gebeten hat. Vielleicht steckt sie in einer finanziellen Klemme (wer tat das nicht heutzutage), vielleicht möchte sie sich einfach nur mal aussprechen oder braucht einen Rat, keine Ahnung. Aber unser Besucherkreis ist nun mal da, um zu helfen.« Es bereitete ihr kein schlechtes Gewissen, die Kirche als Alibi auszunutzen. Schließlich war die Kirche doch zum Helfen da, und wenn sie es auf etwas andere als die übliche Art und Weise tat, was machte das schon?
„Hm, also dass die Panowitsch so viel von der Kirche hält, kann ich mir nicht vorstellen. Aber wenn sie ihr mit Geld helfen können ... das braucht sie sicher nach dem Umzug.«
„Ihr Mann, eh ist der ...?« Verlegene Röte konnte Ali nicht herbeizaubern, aber betreten nach unten schauen. Die John fiel darauf herein.
„Sie haben sich getrennt, ist noch gar nicht so lange her. Es hat einen furchtbaren Krach gegeben. Wir wollten schon die Polizei rufen, so laut ging es da zu. Es wurde gebrüllt und mit Geschirr geworfen. Der Kleine hat geweint und so laut ›Aufhören!‹ geschrieen, dass wir es durch den Badezimmerschacht hören konnten. Als wir uns dann doch endlich dazu durchgerungen hatten, die Polizei anzurufen, da war urplötzlich Schluss mit dem Gekeife. Und am nächsten Tag erzählte die Frau, dass ihr Mann weg ist und sie eine neue Wohnung braucht für sich und das Kind.« Neugier leuchtete aus den Augen der John. Eine Neugier, die auch Ali empfand, aber nicht befriedigen konnte. Noch nicht.
„Das Kind ... eh, welche Grundschule besucht es?«
„Walburgastraße. Ein netter Junge, ein bisschen schüchtern und zurückhaltend, aber freundlich und hilfsbereit. Er kam gern zu uns und hat auch öfter mal geholfen: Den Müll runtergetragen, ich hab Probleme mit der Hüfte, wissen Sie, oder auch mal Sachen aus dem Keller geholt. Wirklich, ein lieber Junge.«
Ali beschloss, gleich heute Nachmittag mit Helga über die Frau und ihren Sohn zu reden.
„Kennen Sie die neue Adresse?«
Die John druckste. „Nein, ja schon, aber ... aber nur für Notfälle, ich habe Frau Panowitsch versprechen müssen, sie nicht weiterzugeben.«
„Sie scheint die neue Wohnung wohl sehr kurzfristig bekommen zu haben und hatte noch gar keine Zeit, sich umzumelden. Im Gemeindebüro hat sie auch die alte Adresse angegeben.« Alis Stimme wurde leise, fast verschwörerisch. „Hören Sie, Frau John, die Frau Panowitsch hat uns angerufen, weil sie dringend Hilfe braucht. Was da los ist, weiß ich nicht, aber Sie können doch nicht wollen, dass wir die arme Frau einfach im Stich lassen?! Oder sagen Sie mir nur die Telefonnummer, dann kann ich anrufen und fragen, ob ich kommen darf.«
Frau John kämpfte mit sich. Ihre Zunge fuhr über die trockenen Lippen, die Stirn krauste sich, und mit den Händen knetete sie nicht vorhandenen Teig. „Also gut, ich sag Ihnen die neue Anschrift. Die Panowitsch wohnt jetzt in Eilpe.«
„Danke.«
Als Ali das Haus verließ, lärmten Schulkinder auf dem Gehsteig. Sie warf einen Blick auf die Uhr und erschrak. Es wurde höchste Zeit, das Mittagessen
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