Renner & Kersting 02 - Mordswut
Helga sich wie so viele ihrer Kolleginnen hilflos angesichts von Verbrechen, die jede Vorstellungskraft sprengen.
Langsam, als täten ihr alle Muskeln weh, stand Helga auf, um zu schauen, was der Kühlschrank fürs Mittagessen hergab. Bevor sie jedoch die Küche erreichte, klingelte es. Ali. Wie früher sprudelte sie mit überschäumender Energie los. „Also, ich weiß, wer die Frau ist, die in der Praxis so auf den Kowenius geschimpft hat. Und die neue Adresse kenne ich auch. Sie hat übrigens einen Sohn an eurer Schule. Vielleicht könntest du mal bei deinen Kolleginnen eruieren, was die über die Frau wissen.«
„Komm rein und setz dich.« So sehr sich Helga freute, die alte Ali wiederzuhaben, so sehr fühlte sie sich im Moment genervt. „Ich habe noch nichts gegessen. Kümmere dich um den Kaffee, ich schmier mir derweil ein Brot.«
Während Helga zwei Scheiben Vollkorntoast mit Kräuterkäse bestrich und Ali Kaffee in die Maschine löffelte, erzählte diese von ihrem Besuch bei der John und deren Aussagen. „Wir müssen uns etwas einfallen lassen, weshalb wir die Panowitsch sehen wollen. Mit meiner kirchlichen Besuchermasche komme ich an die Frau nicht ran.«
„Diese kirchliche Besuchermasche, ist die nicht längst überholt? Wer glaubt denn noch daran?«
„Och, sag das nicht. Gut, den Besucherdienst für Alte und Kranke mussten wir vor einiger Zeit einstellen, weil sich nicht genügend meldeten, die bereit waren, ehrenamtlich tätig zu werden. Aber die grünen Damen im Krankenhaus gibt es noch und auch ein paar andere Dienste. Und im Übrigen glaube ich kaum, dass die John oder die Panowitsch so viel mit der Kirche am Hut haben, dass sie Einzelheiten kennen. Wenn ich denen sage, dass die Gemeinde helfen will, dann glauben die das. Für sie ist Kirche zum Helfen da, das ist schließlich deren Job.«
„So dumm kann doch keiner sein. Auch die Kirche hat nichts zu verschenken.«
„Nein, aber naive, gottgläubige Helfer.« Ali grinste. „So, der Kaffee ist durchgelaufen. Gehen wir rüber oder bleiben wir in der Küche?«
„Das Wohnzimmer ist gemütlicher.«
Dort hingen die Wände voller Fotos von diversen Reisen, Statuen verschiedener Kulturen füllten eine Vitrine, und vor dem Fenster standen die Blumen so dicht, dass sie die schmutzigen Scheiben verbargen. Helga verschob das Putzen von einem Wochenende zum nächsten. Manchmal meldete sich das schlechte Gewissen, aber eine Entschuldigung fand sich immer. Ali gefiel es hier. Sie holte Tassen aus dem Schrank und deckte den niedrigen Couchtisch.
Derweil strapazierte Helga ihr Gehirn. Den Namen ›Panowitsch‹ hatte sie bis dato nie gehört. Es musste sich um einen unauffälligen Schüler handeln. Natürlich konnte sie morgen im Lehrerzimmer nach ihm fragen, aber mit welcher Begründung? Außerdem schien ihr das zu spät zu sein. Sie wollte den Fall so schnell wie möglich klären. Einerseits, um Andrea zu helfen, andererseits aus Eigennutz. Da es keine zusätzliche Lehrkraft gab, musste sie Mehrarbeit leisten, und ihre Klasse kam trotzdem zu kurz, weil vieles ausfiel. Je eher Andrea wieder da war, umso besser. Jede Lehrerin besaß einen Schlüssel für die Schultür, was zwar nicht gestattet war, die Arbeit aber erleichterte. So kam sie nachmittags ins Gebäude und konnte das ein oder andere erledigen. Das Problem war, an die Schülerakten heranzukommen. Aber mit etwas Glück ließ sich der Hausmeister überreden, ihr den Schlüssel für den Stahlschrank zu leihen. Das hatte er schon einmal getan. Warum heute nicht wieder?
Da Ali sie unbedingt begleiten wollte, sollte sie im Auto warten, während Helga den Hausmeister suchte. Meistens stand er nachmittags irgendwo am Zaun und unterhielt sich mit den Nachbarn, so dass für die notwendigen Reparaturen keine Zeit blieb. Sie hatten im Kollegium oft über ihn und seine Arbeitsvermeidungsstrategien gelästert, doch andererseits hatte er schon eine Menge Scherben und Spritzen vom Schulhof entfernt.
Wie erwartet kam er ihr mit einem Besen in der Hand entgegen. Helga horchte in sich hinein. Kein Angstgefühl, nur leichte Nervosität. Sie dachte an ihre Aufklärungsarbeit im letzten Frühling zurück. Da war ihr das Herz fast in die Hose gerutscht, so unwohl hatte sie sich gefühlt. Alles eine Sache der Gewöhnung. Überrascht blieb er stehen als er sie sah. „Nanu, wollen Sie Ihren Unterricht vorbereiten?«, fragte er und stützte sich auf den Besenstiel. Seit sie ihm mal Kaffee und Kümmel im
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