Renner & Kersting 02 - Mordswut
Eltern.
„Entweder kümmern sie sich gar nicht oder sie hängen absolut unverantwortlich mit einer wahren Affenliebe an ihren Kindern.«
Sollte Frau Zenkers Erlebnis sich inzwischen rumgesprochen haben, überlegte Helga. Den vierzehnjährigen Täter kannten viele von ihnen, hatte er doch vier Jahre ihre Grundschule besucht. Nein, erfuhr sie kurz darauf, es handelte sich um eine völlig andere Geschichte.
„Stellt euch vor, die Mutter kam in jeder Frühstückspause in unsere Klasse, um gemeinsam mit ihrem Sohn zu frühstücken. Sie schob seinen Nachbarn beiseite, setzte sich mit an den Tisch und benahm sich, als wären die anderen Kinder und ich gar nicht da. Meine Vorhaltungen wurden einfach ignoriert. Wenn es klingelte, ging sie mit dem Jungen, Hand in Hand hinaus und spielte mit ihm auf dem Schulhof. Kamen andere Kinder dazwischen, wurden sie ausgeschimpft und von der Mutter vertrieben. So etwas ist doch nicht normal! Auf mein Betreiben hin hat Raesfeld der Mutter endlich Hausverbot erteilt. Der arme Junge kann doch nicht kindgemäß aufwachsen, wenn die Mutter in ihm einen Partnerersatz sieht.« Elli Goppel, die ebenfalls ein viertes Schuljahr unterrichtete, gestikulierte zornig mit beiden Händen.
„Ist das die Frau, die immer in schwarzer Lederhose hier herumlungert, gepiercter Bauchnabel, Knopf in der Nase, Ringe in Brauen und Ohren, rote Haare mit schwarzer Strähne und geschminkt, als sei sie in einen Farbtopf gefallen?«, fragte Reiser neugierig.
„Du hast sie dir aber genau angeschaut. Gefällt dir der Typ etwa?« Linda grinste anzüglich.
„Entweder kann oder will sie ihr Alter nicht akzeptieren. Wie mir Daniel erzählte, gehen sie sogar gemeinsam am Wochenende in die Disco«, fuhr Elli fort.
„Nein!« Der Ausruf kam von der alten Schnoor. „Also dafür fehlt mir nun jedes Verständnis! Eine erwachsene Frau kann doch nicht mit einem Zehnjährigen in die Disco gehen. Ist die psychisch noch ganz gesund?«
Elli zuckte die Schultern. „Vermutlich nicht. Aber was können wir tun? Das Jugendamt hat schon genug Problemfälle zu bearbeiten, und eine Mutter, die sich so sehr um ihren Jungen kümmert, dass sie ihn in der Pause in der Schule besucht und ihre gesamte Freizeit mit ihm verbringt, steht auf deren Liste bestimmt ganz unten.«
„Mein Gott, und das alles nennt sich Liebe.« Mit ihren Gedanken war Helga bei Britta, deren Vater auch gesagt hatte, er wolle seiner Tochter nur seine Liebe zeigen. Heute musste sie wieder die letzten Stunden in der 2c vertreten. Sie schaltete ab und versuchte, sich auf ihren Kaffee und ihre Planung für heute Nachmittag zu konzentrieren, was bei dem Geschnatter ringsum nicht leicht war.
Als sie in der zweiten Pause über den Flur eilte, hörte sie aus der 2c Stimmen und lautes Schluchzen. Die Tür war nur angelehnt. Wie schon fast erwartet, hockte Britta weinend auf einem Stuhl. Mehreren Mädchen standen tröstend um sie herum.
„Was ist denn hier los?«
„Britta will nicht in die Pause.«
„So? Warum denn nicht?«
Britta schluchzte lauter, und eine ihrer Freundinnen sagte kaum verständlich: „Sie glaubt, dass da einer am Zaun steht.«
Das war ja ein schönes Malheur. Da Helga nicht wusste, wie viel Britta den Mädchen erzählt hatte, wollte sie nicht genauer nachfragen. Im Übrigen konnte sie sich sehr gut vorstellen, was Britta ängstigte. Doch zunächst musste Grundsätzliches geklärt werden. „Bei wem hattet ihr denn eben Unterricht?«
„Bei Frau Kolczewski.«
„Und die hat euch erlaubt, hier drin zu bleiben?«
Die Mädchen drucksten herum. „Nein, eigentlich nicht.«
„Das war so«, mischte eine andere sich ein, die bisher Brittas Haare gestreichelt hatte. „Wir sind runter gegangen. Und dann hat Britta den Mann gesehen. Und da sind wir wieder rauf gegangen. Und weil die Klasse offen war ...«
Klassentüren abzuschließen, war Helga so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie ganz und gar nicht verstand, wie jemand das Risiko eingehen und den Raum unverschlossen lassen konnte. Aber vielleicht lag es auch daran, dass es nicht Lindas eigene Klasse war und wenn etwas verschwand, sie sich nicht darum würde kümmern müssen. Helga spürte, wie Wut über die Kollegin in ihr hochkam. Es gab an dieser Schule genug mutwillige Zerstörungen und Diebstähle, das musste man nicht auch noch unterstützen.
„Nun gut. Ich habe jetzt Aufsicht. Kommt bitte mit mir runter auf den Schulhof. Britta, du kannst meine Hand nehmen, wenn du möchtest.
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