Renner & Kersting 02 - Mordswut
Zenker ein. Wenn sie sich deren Verzweiflung und ohnmächtige Wut vorstellte, dann hielt sie es durchaus für möglich, dass die Panowitsch ähnlich empfunden und den Arzt umgebracht hatte, insbesondere, wenn der noch auf die Idee gekommen sein sollte, sie zu provozieren, sei es aus Arroganz oder purem Unverständnis. Offensichtlich war die Tat ja nicht geplant gewesen, sondern aus einem augenblicklichen tiefen Hassgefühl heraus geschehen.
Sie konnte das Schweigen des Arztes nicht gutheißen, aber seine Unsicherheit in gewisser Weise nachempfinden. Es ist nicht leicht, einer Mutter mitzuteilen, dass ihr Kind sadistisch gequält wird – und aller Wahrscheinlichkeit nach von dem Mann, den sie liebt. Außerdem kommen kleine Verletzungen bei Kindern häufig vor. Auf der anderen Seite erhalten Ärzte und Psychologen eine weitaus fundiertere Ausbildung in diesem Bereich als etwa eine Lehrerin. Beide sollten in der Lage sein, zweifelsfrei zu erkennen, wenn ein Erwachsener einem Kind Gewalt antut. Nur ungern dachte Helga an ihren ersten mutmaßlichen Fall von sexuellem Missbrauch zurück. Sie war damals noch unerfahren gewesen, hatte gerade ihre Ausbildung beendet und fühlte sich unsicher, ob sie die Anzeichen richtig deutete und wie sie es der Mutter sagen sollte. Schließlich hatte sie die Mutter gebeten, einen Psychologen aufzusuchen, weil das Kind seltsame Verhaltensweisen zeige. Den hatte sie dann angerufen, ihn von ihrem Verdacht unterrichtet und gebeten, diese Möglichkeit im Auge zu behalten. Und was hatte der gute Mann diagnostiziert? Plattfüße. Sie erinnerte sich sehr gut an ihre hilflose Wut. Weil das Kind Plattfüße hatte, stand es nicht mit beiden Beinen auf der Erde, sprich im Leben, und verhielt sich deshalb auch ab und zu merkwürdig. Helga hatte nicht gewusst, was tun und, da das Mädchen kurze Zeit später die Schule wechselte, die Sache fallen lassen. Noch heute verspürte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an das Kind dachte. Hätte sie ihm helfen können? Hätte sie der Mutter ihren Verdacht mitteilen sollen? Doch nachdem sogar ein versierter Kinderpsychologe nichts festgestellt hatte, blieb ihr nichts zu tun übrig. Trotzdem fühlte sie sich schuldig. Liebend gern hätte sie mehr für Nele und Britta getan. Aber was?
Wieder stieg der Lärmpegel der Klasse erheblich an. Die Kinder spürten ihre geistige Abwesenheit und nutzten sie gnadenlos aus.
„Faisal hat meinen Füller geklaut.«
„Äh du Arsch, was soll das? Das stimmt nich. Florian hats genau gesehen.«
„Was? Dass du Tims Füller weggenommen hast?«
„Quatsch! Dass ich nichts getan hab, natürlich. Nich, Florian, du bis mein Zeuge, dass ich nichts gemacht hab.« Dabei warf er Florian einen drohenden Blick zu.
Der sagte vorsichtshalber erst einmal gar nichts. Helga wusste, dass sie sich auf so eine Diskussion unter keinen Umständen einlassen durfte, dann säßen sie nach der Pause noch an der Sache. „Also, wo ist der Füller?«
„Ich hab ihn nich. Ganz bestimmt nich. Hier, durchsuchen Sie mich doch.«
Also hatte Faisal den Füller nicht bei sich. Aber verantwortlich für dessen Verschwinden war er schon. Das zeigte sein überhebliches Grinsen. „Los Faisal, dann such den Füller. Vermutlich liegt er irgendwo auf dem Fußboden.«
„Wieso ich? Ich hab nichts gemacht. Such doch selber.«
Während dieses Intermezzos hatten andere angefangen, lautstark Partei zu ergreifen und zu streiten. Mehtap saß noch immer ohne ihr Mathebuch am Tisch und spielte mit Stiften.
„Wo ist dein Buch?«
„Ich suche es. Ich habe es ganz bestimmt.«
„Ich bin fertig«, brüllte Veronika dazwischen. „Was kann ich jetzt tun?«
Der Vormittag wurde hart. Zuerst brauchte Tim seinen Füller wieder, dann musste sie in Mehtaps Tasche nach dem Buch sehen. Ohne energisches Eingreifen würde das Mädchen die nächsten 20 Minuten mit Suchen verbringen, und dann sollte sie sich für Veronika ein paar schöne Aufgaben einfallen lassen, die ihr auch Spaß machten. Ihr Fleiß musste belohnt, ihrem Tatendrang Genüge getan und den anderen gezeigt werden, dass die Aufgaben in kurzer Zeit zu lösen waren. Und anschließend war es höchste Zeit, wieder Ruhe herzustellen.
In der Pause um 9.30 Uhr fragte Raesfeld nach dem Bericht für das Schulamt. Er zeigte seinen Ärger sehr deutlich, als er erfuhr, dass sie dafür noch keine Zeit gehabt hatte. Und im Lehrerzimmer begann wieder eine jener nervtötenden, endlosen Diskussionen über die Unfähigkeit der
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