Renner & Kersting 02 - Mordswut
ihre innere Unruhe ließ sich nicht unterdrücken. Vielleicht sollte sie noch einmal ins Krankenhaus zu Klaus fahren und diesmal auch bei Andrea vorbei schauen. Gedacht getan. Wieder sprang sie in ihr Auto. Wieder fuhr sie durch verstopfte Straßen. Die Baustellen wurden nicht weniger. Sie schienen sich nur zu verlagern. Vorsichtig umfuhr sie die Schlaglöcher, schimpfte, weil die Fußgängerampeln immer dann grün zeigten, wenn sie im Auto saß und war froh, als sie endlich zum Krankenhaus abbiegen konnte.
In der Eingangshalle sah sie Andreas Vater sitzen, alt und grau, aber aufrecht und ungebeugt. Am Samstag im Hotel hatte er einen freundlicheren Eindruck gemacht als seine Frau. Doch wie er so dasaß, glaubte sie einen Anflug von Selbstgefälligkeit zu entdecken, als würde er sich erhaben dünken über die Menschen seiner Umgebung. Einbildung?
„Hallo! Wie geht es Andrea?« Helga setzte sich zu ihm.
„Oh, guten Tag. Nett, dass Sie vorbeikommen. Es geht ihr nicht gut. Sie leidet unter ihrer Tat.«
Wüsste Helga es nicht besser, hätte sie meinen können, er spräche von dem Mord. „Sie hat den Mann verloren, den sie liebte und heiraten wollte«, sagte sie deshalb mit besonderer Betonung.
„Ein Ehebrecher, der sie zur Hure gemacht hat. Der Herr hat ihn gestraft.«
Am liebsten hätte Helga ihm laut und deutlich gesagt, was sie von seiner Interpretation der Bibel hielt. Aber eine Diskussion über Religion war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte.
„Wer Hurerei und Ehebruch treibt, wird Gottes Königreich nicht erben, so steht es im Korintherbrief«, fuhr er in seiner selbstgefälligen Art fort.
Helga unterbrach ihn ziemlich rüde. „Haben Sie mit ihr gesprochen? Hat sie etwas gesagt?«
„Wenig. Manchmal fragt sie nach dem Warum, dabei sollte sie wissen, dass der Herr sich nicht spotten lässt. Wir haben sie gottesfürchtig erzogen. Uns trifft keine Schuld. Sie hat die Familie dem Gerede der Freunde und Nachbarn preisgegeben. Wir können uns nirgendwo mehr blicken lassen.«
Sein Selbstmitleid amüsierte Helga. Ihrer Meinung nach hatte er das abfällige Verhalten seiner Nachbarn reichlich verdient, wenn auch aus anderem Grund. Statt Verständnis aufzubringen, schob er seiner Tochter alle Schuld zu. So einfach war das für ihn. Trotz seines feinen Äußeren war er im Innern nicht weniger verdorben als viele andere Väter, die sich keinen Deut um ihre Kinder scherten. Helga kannte Andrea nur als freundliche, hilfsbereite Kollegin, stets fröhlich und offen für alle Probleme. Wie es in ihrem Innern aussah, wie viele Verletzungen diese Erziehung hinterlassen hatte, konnte sie nur ahnen. Welcher Art Narben Andrea auch auf ihrer Seele trug, Helga war froh, dass diese mit dem Fall nichts zu tun hatten. Plötzlich, als ihr aufging, was der alte Michalsen gerade von sich gab, zuckte sie zusammen.
„Wir werden uns überlegen müssen, ob wir uns von ihr lossagen. Wahre Liebe darf auf Sünde nicht mit Schwäche und inkonsequenten Zugeständnissen reagieren. Ihr Verhalten ist unentschuldbar.« Nach dieser Äußerung lehnte er sich zurück, ein Paradebeispiel arroganter Überheblichkeit. Helga, die sich während des Gesprächs auf ihn konzentriert hatte, nahm erst jetzt den Betrieb und den Geräuschpegel in der Eingangshalle wahr. Sie hatte das Gefühl, von einem fremden Planeten auf die Erde zurück gestürzt zu sein. Die Abendsonne schickte ihre rotgoldenen Strahlen durch die großen Fenster, eine Praktikantin räumte Kaffeebecher und alte Zeitungen von den Tischen, an der Information drängelten Besucher. Sie wandte sich wieder dem alten Michalsen zu und sah die fanatisch funkelnden Augen, die verkrampften Züge, den angeschmutzten Hemdkragen, der andeutete, dass ein so langer Aufenthalt nicht geplant gewesen war. Er schüttelte den Kopf, während er fortfuhr. „Wie kann ein Kind nur so undankbar sein! Alles haben wir für sie getan, für Erziehung und Bildung gesorgt, ihr das Geld fürs Studium gegeben, ein Auto geschenkt, als sie es brauchte, ihr die Wohnung gemietet, weil sie unbedingt ausziehen wollte. Und was ist der Dank? Sie verlässt ihr Elternhaus, ihre Freunde, ihre Heimat wegen eines Mannes, der nichts wert ist.«
Nach den religiösen Vorwürfen kamen nun die materiellen. Helga erinnerte sich, dass Andrea ihr mal die Geschichte ihres ersten Autos erzählt hatte, als sie im Kollegium über Preise und Unterhaltungskosten sprachen. Andrea hatte während des Semesters und der Ferien hart
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