Renner & Kersting 02 - Mordswut
beziehungsweise ihr Erbe schon einmal getötet hatte, war es plausibel, dass er auf den Ertrag seines Verbrechens nicht verzichten wollte. Ja, das wäre ein Motiv. Sie schaute auf die Uhr. Zu spät, um noch im Präsidium anzurufen und Masowski zu erreichen. Mit einem anderen wollte sie nicht reden. Aber gleich morgen früh, noch vor Schulbeginn, würde sie ihm ihren Verdacht mitteilen. Und dann müssten sie auch Andreas Fall neu aufrollen. Zufrieden mit ihren Überlegungen, lehnte sie sich zurück und las das Geschriebene noch einmal durch. Es war keine literarische Meisterleistung und sollte es auch nicht sein. Sie klickte auf »Drucken«, trank den letzten Tee aus und spielte zum Abschluss eine Runde Solitaire, bis der Drucker alles ausgespuckt hatte.
37
Am Mittwochmorgen betrat sie die Schule mit gemischten Gefühlen. Vor genau einer Woche hatten sie alle sich auf Andreas Hochzeit gefreut und das Spalier geplant. Als sie am Rektorzimmer vorbeikam, wollte sie nur schnell ihren Bericht abgeben, doch die Sekretärin hielt sie zurück. Sie kam nur zweimal die Woche, mittwochs und freitags. Alles, was zwischendurch anfiel, musste warten oder von den Lehrern selbst erledigt werden.
„Herr Raesfeld meinte, ich sollte Ihnen sagen, dass Frau Soltau am Mittwoch Frau Michalsen angerufen hat. Er meinte, da Sie ja nun die Klasse führen, wäre es ganz gut, wenn Sie über alles Bescheid wüssten, was in der Klasse passiert ist.« Helga blieb abwartend stehen. Anrufe von Müttern waren an der Tagesordnung. „Viel habe ich ja nicht mitbekommen, aber die Frau Michalsen schien erschrocken. Sie ist gegangen, ohne sich zu verabschieden.«
„So?«
„Die Soltau machte es sehr dringend, sodass ich Frau Michalsen gesucht habe. Es war in der zweiten Pause, sie war nicht im Lehrerzimmer, und ich musste extra rauf laufen in ihre Klasse.«
Die Sekretärin warf Helga noch einen verärgerten Blick zu, dann drehte sie sich um und beschäftigte sich mit der Post auf Raesfelds Schreibtisch, um deutlich zu zeigen, dass sie Wichtigeres zu tun habe als Gespräche zu übermitteln.
„Danke, ich weiß Bescheid. Frau Soltau war am Montag hier und hat mit mir gesprochen.« Vermutlich hatte sie Andrea genau das erzählt, was sie ihr, Helga, auch gesagt hatte.
Langsam ging sie zum Lehrerzimmer hinüber, wo sich inzwischen die meisten Kolleginnen versammelt hatten. Elli war gestern im Krankenhaus gewesen, um Andrea zu besuchen, die noch immer apathisch in ihrem Bett lag und kaum ein Wort sprach. „Die Arme tut mir Leid. Ich habe mir nie vorstellen können, wie ein waidwundes Tier guckt, aber ich glaube, gestern habe ich den Blick gesehen. Sie hat mich angeschaut, als würde sie am liebsten auch sterben. So voller Schmerz und Qual, aber gesagt hat sie nichts. Kein Wunder, ihre Eltern saßen daneben, und die sind wirklich heftig. Nennen ihre eigene Tochter eine Hure, nur weil sie nicht als Jungfrau in die Ehe geht und Kowenius geschieden ist. Dabei machte Andrea immer einen völlig normalen Eindruck.« Sie endete mit leicht fragendem Unterton. Die Anwesenden nickten bestätigend. „Sie hat sich sogar geweigert, Religion zu unterrichten, obwohl wir in dem Fach knapp besetzt sind.«
„Vermutlich hält sie nichts von der Kirche. Wenn die Eltern sie so übertrieben erzogen haben, hat sie den ganzen Blödsinn hinter sich gelassen. Ist doch nur verständlich, oder?« Das kam von Frau Meierfeld, der Jüngsten im Kollegium.
„Sie glauben doch wohl nicht, dass man jahrelange Indoktrination einfach hinter sich lassen kann? Das sitzt viel zu tief. Außerdem, falls sie es geschafft haben sollte, hätte sie ganz sicher ihre Eltern nicht zur Hochzeit eingeladen. Und die würden ihre abtrünnige Tochter nicht besuchen. Nein«, Frau Stellmann schüttelte bedeutungsschwer ihren Kopf, „ich bin ziemlich sicher, dass sowohl die Religion, als auch ihre Eltern eine große Rolle in ihrem Leben spielen.«
„Wenn das stimmt, dann war der Schock für sie noch größer als bisher gedacht.« Leise und nachdenklich fuhr Elli Goppel fort. „Sie hat nicht nur ihren Bräutigam verloren, jetzt sieht sie sich vielleicht sogar selbst als Hure. Sie ist keine Jungfrau mehr und ohne Ehemann. Womöglich werden ihre Eltern sie genauso verstoßen wie fanatische Moslems das tun würden.«
„Quatsch! In welcher Zeit lebst du?« Linda Kolczewski haute auf den Tisch. „Und selbst wenn ... ihr könnte doch nichts Besseres passieren als von solch bigotten Eltern getrennt zu
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