Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Küchentisch und rauchte. Der Aschenbecher vor ihr quoll über. Trotzdem fand sie immer noch Platz für eine weitere Kippe. Sie fühlte sich von Problemen umgeben wie von Kerkermauern, nur dass es dort meist einen, wenn auch noch so winzigen, Lichtschein gab, der Hoffnung signalisierte. Ein Teil ihrer selbst wunderte sich über die Traurigkeit, die sie empfand, ein anderer Teil forderte endlich Klarheit. Sie hatte das Gefühl, zwischen allen Stühlen zu sitzen, unfähig für sich und ihre Kinder eine Entscheidung zu treffen. Hing es damit zusammen, dass sie schon einmal falsch entschieden hatte? Nein, dachte sie und drückte so vehement ihre Zigarette aus, dass einige Kippen auf dem Tisch landeten. Nicht falsch! Es durfte nicht falsch sein, auch einmal an sich zu denken. Die Zeiten, in denen eine Frau sich damit begnügen musste, Glück allein in der Familie zu finden, waren lange vorbei. Zu gut erinnerte sie sich an den so oft gehörten Spruch ihrer Mutter: Ich bin glücklich, wenn es euch gut geht. Doch wirklich glücklich hatte sie ihre Mutter nie gesehen. Selbst ihr Lachen klang irgendwie angestrengt. Wie meine Mutter werde ich nie, hatte sich Ali geschworen. Doch dann war sie Herbert begegnet und fast willenlos in jene Bahn hineingeschlittert, auf die sie nie hatte geraten wollen. Begonnen hatte es gleich nach Franziskas Geburt. Sie verzichtete auf Kino und Theater, weil sie ihre Tochter keinem Babysitter anvertrauen mochte, während Herbert allein ausging. Und so war es weitergegangen. Zwölf lange Jahre zählte für sie nur das Glück der Familie. Und dann, im letzten Oktober, hatte sie zum ersten Mal bewusst an sich gedacht und egoistisch gehandelt. Eigentlich nur ein kleines bisschen, wie sie fand. Noch dazu mit Herberts Zustimmung. Das Ende vom Lied? Sie fühlte sich beschissen, und die Kinder brachten schlechte Zensuren heim. So konnte es nicht weitergehen. Franziska und Veronika ließen in der Schule immer mehr nach, wobei sie es nicht einmal für nötig erachteten, mit ihrer Mutter über ihre Noten zu reden. Sie nutzten jeden Vorwand, um bei verschiedenen Freundinnen zu übernachten. So froh Ali einerseits über die Ruhe war, so litt sie andererseits unter Gewissensbissen ihren Kindern gegenüber. Aber was sollte sie denn tun? Herbert kam jeden Abend später heim, und jeder Versuch eines Gesprächs endete in lautem Streit. Montag hatte er sogar das Wort Scheidung erwähnt. Und sie konnte sich nicht entschließen, ob sie sich trennen wollte oder nicht. Schließlich war eine Ehe nicht nur für gute Tage gedacht. Und ihrer Meinung nach strebten viel zu viele Paare zu schnell eine Scheidung an. Sie hielt nichts von sogenannten Lebensabschnittspartnerschaften. Dafür nahm sie das Ehegelöbnis zu ernst. Oder lag das an ihrer altmodischen Erziehung?
Am Samstag hatte sie sich in der Zeitung die Seite mit den Partnergesuchen einmal genauer angeschaut und gemerkt, dass sie noch lange nicht zu alt für eine neue Beziehung war. Überrascht stellte sie fest, wie viele Frauen mit und ohne Kinder sich nach einem Partner sehnten. Seltsamerweise fühlte sie sich von dieser Erkenntnis getröstet und beruhigt. Doch wie würden die Kinder eine Scheidung verkraften? Es war so unfair vom Schicksal, ausgerechnet in dem Moment, da sie sich entschieden hatte, in ihrer Ehe auszuharren, ihrem Mann eine Frau in den Weg zu stellen, mit der er nicht bloß das Bett teilte, sondern in die er sich auch noch prompt verliebte. Warum konnten Männer sich nicht beherrschen? Sie hatte sich doch auch zusammengerissen, damals, als sie merkte, dass er ihr nichts mehr bedeutete. Wegen der Kinder einerseits und aus Bequemlichkeit andererseits. Aber Herbert machte ihr das Leben schwer, sprach von Scheidung und rechnete bereits den Unterhalt aus. Wie sollte sie von so wenig Geld leben? Die Kinder waren einen anderen Lebensstandard gewohnt – und sie auch. Aber sich erniedrigen und versuchen, Herbert zurückzuerobern, nein, das wollte sie nicht. Sie besaß auch ihren Stolz.
Je länger sie nachdachte, desto wirrer wurden ihre Gedanken. Sie hätte längst Helga anrufen müssen. Aber sie kannte deren Kommentar so gut, als hätte sie ihn bereits gehört. Schließlich waren Veronikas Zensuren kein Geheimnis. Verdammt, sie musste etwas tun. Allein schon wegen der Kinder sollten klare Verhältnisse geschaffen werden. Trennung oder Ehe. Was hatte sie früher über die Frauen geschimpft, die von heute auf morgen ihren Mann verließen und den Kindern den
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