Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Vater nahmen. Allmählich entwickelte sich Verständnis bei ihr. Trotzdem gefiel ihr der Status einer alleinerziehenden Mutter nicht. Zu einer Familie gehörte ihrer Meinung nach auch der Vater, und wenn der nicht wollte ... ja was dann? Zwingen konnte sie ihn nicht. Ali seufzte und steckte sich die nächste Zigarette an. Sie rauchte zuviel. Sie wusste es und konnte sich doch nicht einschränken.
Die Tür öffnete sich, und Franziska kam herein. »Eh Mann, was stinkt das hier! Sei froh, dass wir keinen Rauchmelder haben, sonst wäre längst die Feuerwehr da.« Sie lief zum Fenster und öffnete beide Flügel. Kalte Winterluft strömte herein. Ali fühlte, wie ihr Kopf klarer wurde. Sie drückte die angefangene Zigarette wieder aus, stand auf und stellte sich ans Fenster.
»Gute Idee.«
»Sag’ mal«, Franziska zögerte. Hoffentlich will sie nicht über ihre Eltern reden, dachte Ali zerknirscht. Aber Franziska quälten andere Sorgen. »Du kennst doch den Wohlfang. In der Schule geht das Gerücht, es wäre Mord gewesen.«
»Was?«
Normalerweise war Ali Merklin bestens über alle Gerüchte informiert. Nicht, dass sie gern tratschte, aber sie konnte gut zuhören, und oft genügte ein aufmunternder Blick ihrer blauen Augen, um andere zum Reden zu veranlassen.
Fröstelnd drehte sie sich um und griff nach der roten Packung. Franziska erzählte, was sie am Montag bereits ihrem Vater gesagt hatte und dass heute ein Polizist in der Schule gewesen war, um die Lehrer zu befragen. »Und die Meeren hat gesagt, wir sollen überlegen, ob wir Fremde im Gebäude gesehen haben, am Montag. Einer von ihnen könnte der Mörder sein. Weil, wenn es keinen Fremden gibt, bleibt der Verdacht an uns hängen, an den Schülern und Lehrern. Was glaubst du, wird die Polizei uns verdächtigen? Ich meine die Unterstufe.«
»Aber nein.« Sie strich ihrer Tochter tröstend übers Haar. »Bestimmt nicht.“ Sie wollte mit Franziska nicht über Mord sprechen, dafür war das Mädchen zu jung. Andererseits hatte es selbst die Sprache darauf gebracht und zwar so cool, dass es Ali überraschte. Ob der Konsum diverser Fernsehkrimis Schuld war, dass Franziska den Begriff so lässig benutzte? Womöglich hatte sie den Schrecken des Geschehens gar nicht realisiert. Ali lenkte ab: „Wie war er denn so als Lehrer?«
»Oh Mann eh! Das habe ich dir schon hundertmal erzählt. Hörst du eigentlich überhaupt nicht mehr zu?« Frustriert drehte Franziska sich um und wollte gehen. Auch das hatte es früher nicht gegeben. Es hatte Ali stets interessiert, was ihre Kinder aus der Schule berichteten. Neugier gehörte zu jenen Lastern, die sie sich zwar selbst eingestand, jedoch niemals öffentlich zugeben würde. Dass viele kleine Informationsstücke sich zu einem großen Ganzen entwickeln konnten, erfuhr sie immer wieder, ganz besonders bei jenen zwei Kriminalfällen, die sie gemeinsam mit Helga Renner gelöst hatte.
Sie schloss das Fenster, umarmte ihre Tochter und spürte zum ersten Mal Widerstand. »Na komm, erzähl’ mir noch einmal alles. Und dieses Mal, das verspreche ich dir, höre ich ganz genau zu.«
»Na gut. Also – der Wohlfang, bei dem hatten wir ja Deutsch und Sport. Und wer bei dem in Sport gut war, hatte auch einen Bonus in Deutsch. Da brauchte man sich gar nicht mehr anzustrengen. Eigentlich ungerecht, findest du nicht?«
Ali nickte.
»Die meisten von uns waren sauer auf ihn und Eltern vermutlich auch. Weißt du, man konnte nicht mit ihm reden. Er benahm sich wie ... wie so’n Obermacho. Was er sagte, das stimmte. Und wenn er ein richtiges Wort als falsch angestrichen hatte, dann war das eben falsch. Da hat er nichts geändert, auch nicht, wenn eine Zensur davon abhing.«
Ali stöhnte. Offensichtlich hatte Franziska ihr das schon mehrfach berichtet, und sie hatte nicht nur nichts unternommen, sie hatte es nicht einmal bewusst mitbekommen. Höchste Zeit, dass sich etwas änderte. Aber was? Und wie?
»Meinst du, dass die Polizei das alles herausfinden wird?«
»Vermutlich schon, ja.«
»Dann ... dann könnten wir vielleicht doch in Verdacht geraten?«
So ein Unsinn!, hätte Ali am liebsten geschimpft. Sie kannte jedoch das Gerechtigkeitsgefühl ihrer Tochter, und deren Freundinnen waren nicht anders. Aber Mord? Das schien ausgeschlossen. Und wenn sie ihn gar nicht hatten töten wollen? Wenn es nur als kleine Rache oder Denkzettel gedacht war? Dazu wären auch Zwölfjährige fähig. Ihr lief es kalt über den Rücken. Nein, solche Gedanken
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