Renner & Kersting 03 - Mordsgier
durfte sie gar nicht erst zulassen. Vielleicht sollte sie endlich Helga anrufen. Immerhin waren die vierten Klassen im selben Schulgebäude untergebracht, solange die Grundschule saniert wurde. Dazu war die Lehrerin mit einem Polizisten befreundet. Womöglich wusste sie schon mehr. Besser als hier zu sitzen und zu grübeln war es allemal.
»Weißt du was? Ich werde Frau Renner anrufen. Vielleicht weiß sie Genaueres.«
Franziska kannte die freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihrer Mutter und der Lehrerin ihrer Schwester und nickte erleichtert. Da Ali befürchtete, es würde einiges zur Sprache kommen, was ihre große Tochter nicht unbedingt erfahren musste, schickte sie Franziska unter einem Vorwand hinaus.
Wie erwartet überfiel Helga sie gleich mit Veronikas Leistungsabfall. »Du hast ihre Arbeiten unterschrieben und weißt, wie schlecht sie geworden ist. Warum hast du nichts unternommen? Du hättest wenigstens mal anrufen können. Seit Tagen spreche ich auf deinen AB und warte, dass du dich rührst.«
»Meine Güte, wenn es mir besser gegangen wäre, hätte ich das bestimmt getan.«
»Veronika ist ein intelligentes Mädchen. Es wäre schade, wenn sie aufgrund ihrer Zensuren nicht zum Gymnasium gehen könnte.« Sie verstummte abrupt, holte hörbar Luft und fragte dann leise: »Was hast du gerade gesagt? Wenn es dir besser gegangen wäre? Was ist denn los?«
»Ach Helga, Herbert spricht von Scheidung.«
»Und? Du liebst ihn doch sowieso nicht mehr. Also, wenn ich da an unsere Gespräche im Herbst denke ...«
»So einfach ist das alles nicht.« Ali stöhnte und fühlte sich den Tränen nahe. Da das Gespräch zu schwierig wurde, um es telefonisch zu führen, entschloss sie sich, Helga zu besuchen. Dort erschien eine ungestörte Unterhaltung sehr viel wahrscheinlicher. Herbert hatte gestern Abend versprochen, pünktlich heimzukommen. Ali hoffte, er würde sich daran halten. Für den Notfall wusste Franziska, wo sie sich befand und konnte anrufen.
Während Ali mit dem Auto die paar Häuserblocks zu Helga fuhr, überlegte sie, ob sie sich nach einer Scheidung das Auto würde leisten können. Verflixt, sie stellte Überlegungen an, als wäre die Trennung eine beschlossene Sache. Wie konnte Herbert nur all das aufgeben, was sie sich in zwanzig gemeinsamen Jahren erarbeitet hatten? Alles wäre einfacher, wären da nicht diese verdammten Gefühle, ihre mütterliche Verantwortung kämpfte mit ihrer Sehnsucht nach Unabhängigkeit, ihr Wunsch nach finanzieller Sicherheit stand ihrem Stolz entgegen.
Helga bat sie mit einer Handbewegung herein. Ihrem verschlossenen Gesicht merkte Ali an, dass sie noch immer zornig auf Alis Versagen war. Der Wasserkocher summte, und ohne nach Alis Wünschen zu fragen, goss Helga Tee auf. Auch das nahm Ali als Zeichen für deren Verstimmtheit. »Verdammt noch mal!«, explodierte sie. »Ich weiß, dass ich die Kinder vernachlässigt habe, aber das ist eine Sache zwischen ihnen und mir. Deswegen musst du mir nicht die kalte Schulter zeigen. Und jetzt wirf die Kaffeemaschine an. Ich mag dieses Waschwasser nicht. Oder soll ich gleich wieder gehen?«
»Du hättest nach Veronikas erster Fünf mit mir reden müssen. Aber anscheinend glaubst du ja, das ginge mich nichts an. Du bist keinen Deut besser als das asoziale Pack, mit dem ich mich dauernd rumärgern muss.«
Ali zuckte zusammen, dann grinste sie. »So etwas sagt man nicht, schon gar nicht als Lehrerin. Wo bleibt deine Political Correctness?«
»Die geht zum Teufel, wenn Kinder unter egoistischen Eltern zu leiden haben. Und Veronika leidet. Neuerdings sammelt sie sogar Yu-Gi-Oh und schaut sich auch noch die Fernsehsendungen an. Gibt dir das nicht zu denken? Deine brave Veronika und Mangas? Was ist bei euch los?«
Nach einem Blick in Alis gequältes Gesicht füllte sie erst Wasser, dann Kaffeepulver in die Maschine und schaltete ein. Es war völlig sinnlos, dass sie sich hier und jetzt so angifteten. Damit war weder Veronika noch Ali geholfen.
Helga räumte den Tisch im Wohnzimmer leer, der wie immer voll lag mit Büchern, Heften, Zeitschriften, einem Teller mit einem vereinsamten Lebkuchen, Stövchen und Zuckerdose. Ali brachte saubere Tassen und zwei Kannen. Als beide versorgt waren, schien sie bereit zu reden.
»Also, dass meine Gefühle für Herbert plötzlich weg waren, habe ich dir ja erzählt. Ich hatte damals selbst schon an Scheidung gedacht, mich aber dann entschlossen, bei ihm zu bleiben, bis Veronika etwas älter und
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