Renner & Kersting 03 - Mordsgier
unschuldig verurteilt worden?«
Allmählich wurde Ali unruhig. Gleichgültig, worauf Franziska hinauswollte, ihre Tochter verdiente Ehrlichkeit. »Ja, aber sehr selten. Weißt du, unser System ist ziemlich sicher. Nicht nur die Polizei, auch Staatsanwalt und Richter müssen von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein.«
Ali wartete ab. Sie wollte nicht drängen und das bisschen Vertrauen, das noch oder wieder da war, gefährden. Franziska sollte die Geschichte von selbst erzählen. Als Ali merkte, dass ihre Finger ein Eigenleben führten, verschränkte sie die Arme, um ihre Nervosität zu verbergen. Dann fiel ihr ein, wie ablehnend verschränkte Arme auf ein Gegenüber wirken, und sie verbarg ihre Hände unter dem Tisch. Endlich! Ein unschlüssiges Räuspern, ein langer Blick. Ali stand auf, reichte Veronika eine zusätzliche Portion Eis, nahm Franziska in den Arm und führte sie hinüber in das Wohnzimmer. »Nun sind wir zwei unter uns. Wenn du bei deinem Versprechen ein gutes Gefühl hättest, hättest du nicht davon angefangen. Also?«
Ein kurzes Zögern, dann legte sie los. »Es ist so. Du kennst doch Lucia, Lucia Pasquale?«
»Sicher. Was ist mit ihr?”
»Ich hab’ dir doch erzählt, dass der Wohlfang ’n ziemlicher Kotzbrocken war. Er hat furchtbar viel verlangt in Sport. Und wer an den Geräten und in Leichtathletik fit war, bekam automatisch auch eine gute Zensur in Deutsch. Und Lucia, die ist vor Weihnachten beim Konditionstraining zusammengebrochen. Weil es draußen sonnig und trocken war, mussten wir rund um die Schule joggen. Sie konnte nicht mehr, sie ist nicht ganz gesund. Manchmal kriegt sie asthmatische Anfälle, je nachdem, was da gerade durch die Luft schwirrt. Ja, und als sie dann stehen blieb, da hat der Wohlfang ihr mit ’ner Sechs gedroht. Deshalb ist sie dann doch weitergelaufen, langsam zwar, aber immerhin, und plötzlich ist sie umgekippt. Oh Mann! Wir waren die Letzten, das heißt, Jessica war noch dabei. Die kennst du doch, die Dicke, die auch schon mal hier war. Ich bin dann hinter den anderen her und habe den Wohlfang gerufen, aber der hat nur gebrüllt, sie solle sich nicht so anstellen und ist mit der Gruppe einfach weiter gejoggt. Lucia lag ohnmächtig auf dem Bürgersteig – in der kleinen Seitenstraße hinter der Schule, du weißt schon. Kein Mensch weit und breit. Und selbst wenn, was hätte der tun können außer einen Arzt rufen? Und das hat Jessica erledigt. Die geht nirgendwohin ohne ihr Handy. Eh Mann, ich glaube, die telefoniert sogar in der Badewanne. Jedenfalls – wir konnten Lucia doch nicht allein da liegen lassen, oder? Abgesehen davon wäre es bis zur Schule sowieso zu weit gewesen. Als der Arzt dann kam, ging es Lucia schon wieder besser. Oh Mann, hat der Wohlfang uns hinterher angeschnauzt! Das gäb ’ne saftige Rechnung, wenn man grundlos einen Notarzt ruft, und überhaupt, wäre das seine Sache gewesen, und was Jessica denn eingefallen wäre, sich einzumischen. Und so’n Zeugs eben. Er war stocksauer – und dann hat er Lucia und Jessica eine Sechs aufgeschrieben, weil sie die Runde nicht beendet haben.«
»Und du?«
Franziska zuckte die Schultern. »Mir auch. Aber mir ist das egal. Nur ... Lucias Vater, der ist sehr streng. Der will unbedingt, dass Lucia studiert. Und außerdem, der kommt doch aus Sizilien. Wenn der nun ... aber das hat der bestimmt nicht. Und Lucia auch nicht. Wegen einer Sechs bringt man doch niemanden um, oder?«
Ali zog ihre Tochter zu sich, die sich zunächst sträubte, dann aber nachgab und die Umarmung über sich ergehen ließ. In dem Moment erschien es Ali Ewigkeiten her, seit sie das Mädchen zuletzt gedrückt hatte. Zärtlich strich sie ihm über die Haare. »Nein, das glaube ich auch nicht. Nicht jeder Sizilianer gehört zur Mafia, Liebling. Aber wenn du möchtest, könnte ich ja mal mit Lucias Vater oder Mutter sprechen. Er besitzt doch eine Pizzeria, nicht wahr? Da bestelle ich bei ihm Pizza, und während ich warte, bringe ich das Gespräch ganz unverfänglich auf die Schule und unsere Töchter. Vielleicht weiß er gar nichts von der Sechs?«
»Doch, ganz bestimmt. Lucia erzählt alles zuhause. Aber wenn du zu ihm gehst, sage bitte nicht, dass ich mit dir darüber gesprochen habe. Ich musste Lucia versprechen, niemandem etwas zu verraten. Sie hat ... hatte furchtbare Angst vor dem Wohlfang. Weil sie meinte, dass sie jetzt auch in Deutsch eine schlechte Zensur kriegen würde.«
Veronika kam hereingestürzt. »Ich
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