Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Wodka in Strömen floss, waren den Einsatz wert gewesen. Die russischen Schläger brauchte er nun zwar nicht mehr zu fürchten, trotzdem sollte er vorsichtig sein, wenn er sich in der nächsten Zeit mit einer Frau in der Öffentlichkeit blicken ließ. Obwohl die Geschichte gerade noch gut ausgegangen war, hatte er nach und nach alle Beziehungen zu dem impulsiven und gewalttätigen Russen gekappt.
Wie angenehm gestaltete sich dagegen der Umgang mit älteren Damen. Sie freuten sich über jedes Kompliment und dankten ihm seine Zuneigung mit Geld und Geschenken.
Einer Sache war er sich jedenfalls ganz sicher: Niemals würde er zwischen all den Asis auf dem langen Flur stehen und warten, dass er aufgerufen wurde, um nach endlosem Papierkrieg ein Almosen der Gesellschaft in Empfang zu nehmen. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Das hatte er schon vor langer Zeit beschlossen. Längst vergessen geglaubte Eindrücke, die sich ihm ins Gehirn gebrannt hatten, als er noch ein Junge war und an der Hand seiner Mutter dort gestanden und gewartet hatte, schoben sich ins Bewusstsein. Der Geruch nach ausgeatmetem Alkohol und billigen Zigaretten, das Gefühl grob tätschelnder Hände auf seinem Kopf und das heisere Gesäusel: ›Ist das ein süßer Bursche!‹, die leisen hilflosen Bitten seiner Mutter sowie die barsche Arroganz des Beamten: ›Dafür gibt’s kein Geld!‹ Plötzlich war alles wieder da. Er schüttelte sich, doch die Kälte zwischen seinen Schulterblättern konnte er dadurch nicht vertreiben.
Was immer auch geschehen mochte, er würde nicht zulassen, dass ihm Derartiges zustieße. Er war stolz auf seinen Verstand und seinen Charme, und solange beides funktionierte, würde er Menschen finden, die ihm Geld anvertrauten und ihn liebten. Bisher hatte er für scheinbare Fehlinvestitionen noch immer plausible Erklärungen gefunden, sodass niemand auf die Idee gekommen war, ihm Eigennutz oder gar Betrug vorzuwerfen. Und er würde alles tun, damit das auch so blieb.
Noch einmal überdachte er seine Handlungen im Zusammenhang mit der Tat. Nichts deutete auf ihn, aber auch gar nichts. Der damalige Gastgeber wusste wahrscheinlich nicht einmal, was da in seinem Gartenhäuschen zwischen verschiedenen Mitteln zur Schädlingsbekämpfung, Dünger und Pflanzensamen alles herumstand. Und selbst wenn, würde er das Gift frühestens in ein paar Monaten vermissen, wenn das Unkraut zu sprießen begann. Und bis dahin war dieser Mord längst vergessen.
Insgesamt gesehen bedeuteten die polizeilichen Ermittlungen also keine große Gefahr für ihn. Mit seinen Überlegungen zufrieden, faltete er die Zeitungen zusammen, brachte sie zum Ständer zurück und genehmigte sich einen letzten Kaffee. Es konnte wie geplant weitergehen.
Als Veronika und Franziska heimkamen, hatte Ali gekocht. Im Gegensatz zu früher begannen die Kinder nicht sofort ihre Erlebnisse zu erzählen, was ihre Mutter bekümmert zur Kenntnis nahm. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ihre Töchter in unverantwortlicher Weise vernachlässigt hatte. Das musste sich ändern. Am besten sofort. Ihre Mitarbeit im Bibelkreis würde sie noch heute Nachmittag aufkündigen, ebenso ihr Engagement in der Suppenküche und bei den grünen Damen. Da sie wegen ihrer Hilfsbereitschaft bekannt und beliebt war, hatte man sie gnadenlos ausgenutzt. Und sie hatte sich gern ausnutzen lassen, um sich abzulenken. Doch genützt hatte es nicht. Denn wo waren ihre Gedanken, wenn sie Essen an Obdachlose verteilte oder für Patienten einkaufen ging? Wie oft hatte sie sich einen Schalter zum Ausknipsen gewünscht.
Sie saßen bereits beim Nachtisch, Eis mit Schokoladensoße für die Kinder, Cappuccino für Ali, als Franziska, die bisher kaum ein Wort gesagt hatte, plötzlich fragte: »Muss man ein Versprechen eigentlich immer halten?«
Sie sah blass aus, was für sie völlig untypisch war, und hatte wenig gegessen.
»Nun ja«, Ali zögerte. Sie wollte den Eindruck einer wohldurchdachten klugen Antwort erwecken. »Es gibt gute und schlechte Geheimnisse, wie du weißt. Wenn dir dein Versprechen Freude bereitet und du ein gutes Gefühl dabei hast, solltest du es halten. Fühlst du dich dagegen unwohl, belastet es dich, ist es besser darüber zu reden. Und dann darf man es nicht nur, man muss es sogar.«
Noch zögerte Franziska. »Aber wenn man es einer guten Freundin versprochen hat, sieht das doch anders aus, oder? – Sind eigentlich schon mal Menschen
Weitere Kostenlose Bücher