Renner & Kersting 03 - Mordsgier
jedoch, wenn Thode grundsätzlich erpressbar war, hätte Wohlfang auch mehr verlangen können. Genau das bisschen Zuviel, welches das Fass zum Überlaufen brachte. Was wusste Wohlfang? Und würde Thode soweit gehen, für dieses Geheimnis zu morden? Das hing sicher vom Verschmutzungsgrad seiner weißen Weste ab. Vielleicht sollte sie Ali auf Thode ansetzen. Bei ihrem extrovertierten Wesen fiel es ihr leicht, Kontakt zu anderen zu bekommen und diese auszufragen. Blödsinn!, schalt sie sich selbst. Niemand spricht freiwillig über Fehlverhalten. Da musste schon schärferes Geschütz aufgefahren werden.
Die Meeren unterbrach ihre Gedanken. »Was ist los? Bereiten Sie Ihren Unterricht vor? Sie schauen so nachdenklich drein.« Da hatte wieder einmal jemand in Helgas Gesicht lesen können wie in einem Buch. Gut, dass die Meeren gleich eine Erklärung mitgeliefert hatte. Helga lachte ein wenig gezwungen. »Bei meinen Rabauken muss ich flexibel sein. Je nachdem wie sie drauf sind oder wie die Pause gelaufen ist, muss ich meinen Plan ändern. Im Grunde sollte ich jede Stunde mehrfach vorbereiten. Aber da hilft zum Glück die Erfahrung.«
Zum ersten Mal mischte sich die füllige Dame ein. »Ach, die Kleinen sind doch noch niedlich. Da macht das Unterrichten sicher Spaß.«
Die Frau meinte tatsächlich ernst, was sie da sagte. Der von Helga angebotene Tausch wurde natürlich abgelehnt. Helga hasste diese haltlosen Behauptungen, die nur auf Vorurteilen basierten, hatte aber keine Lust, mit einer Kollegin darüber zu debattieren. Sowieso glaubte jeder, Grundschularbeit besser beurteilen zu können als die Grundschullehrer, die eh nichts anderes zu tun hatten als über zuviel Arbeit zu jammern. Die Meeren schien eine große Portion Menschenkenntnis zu besitzen, denn mit einem entschuldigenden Unterton in der Stimme sagte sie sofort: »Frau Lohmann hat im Moment ziemlichen Stress mit der Acht. Klar, dass einem im Vergleich zu den Großen die Kleinen niedlich vorkommen. Aber ich vermute mal, die können auch ganz schön nerven.«
Helga seufzte. »Hatten Sie schon mal Ärger wegen eines Feuerchens unter dem Tisch, einer Pumpgun auf dem Schulhof oder sexuellen Missbrauchs durch den Vater? Gibt es im Gymnasium Kinder, die während des Unterrichts pausenlos Geräusche von sich geben, andere grundlos prügeln und würgen, stehlen, lügen und betrügen? Soll ich fortfahren?«
Die Lohmann guckte Helga ungläubig an. »Ach, nun übertreiben Sie mal nicht. Sie müssen sich schließlich nicht mit Rauschgift rumschlagen oder Jugendlichen, die schon ein Alkoholproblem haben.«
Wenn Helga so antworten würde, wie es ihr gerade in den Sinn kam, könnten sie eine Endlos-Diskussion führen zu den Themen: ›Wessen Arbeit ist schwieriger?‹ oder ›Wie kriminell sind Kinder und Jugendliche?‹ Das wollte sie ganz und gar nicht. Eigentlich hatte sie geplant, über Häuser und Gärten zu sprechen, aber irgendwie das Thema verpasst. Ein Blick auf die Uhr, auch den hatte die Meeren bemerkt, zeigte, dass die Pause ohnehin fast vorüber war und es nicht mehr lohnte, ein neues Thema anzuschneiden. Aber vielleicht sollte sie mit der Kollegin mal in aller Ruhe plauschen. Die Frau besaß eine scharfe Beobachtungsgabe. Thode hatte sich während des Gesprächs unauffällig entfernt und stand jetzt nahe der Tür mit einem Brot in der Hand. Oberstudiendirektor Hohlberg kam kurz herein, um mit lauter Stimme auf die Vertretungspläne hinzuweisen, die kurzfristig geändert worden waren, ein anderer Kollege heftete einen rotleuchtenden Zettel ans schwarze Brett. Der allgemeine Geräuschpegel schwoll kurz vor Pausenende wieder an, da jeder noch schnell etwas ungemein Wichtiges loswerden wollte.
12
Ali fühlte sich wohl wie schon lange nicht mehr. Während sie das Essen für sich und ihre Kinder zubereitete, dachte sie kein einziges Mal über ihre Ehe nach. Robert Banken und sein geheimnisvoller Import beschäftigten sie. Ob es sinnvoll war, heute Nachmittag noch einmal nach Berchum zu fahren? Oder sollte sie das lieber auf morgen früh verschieben und heute mit Frau Zils reden? Je mehr Stoff sie zum Nachdenken erhielt, umso besser. Also auf zur Zils. Noch wusste sie nicht, wie sie vorgehen wollte. Sie verließ sich auf ihren Instinkt und ihre Flexibilität. Die hatten auch heute Morgen geholfen. Gleich nach dem Mittagessen scheuchte sie die Kinder auf ihre Zimmer zwecks Erledigung der Hausaufgaben und rief bei der Sparkasse an, um sich zu erkundigen, wo
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