Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Helga über die Frauen geschimpft hatte, aber hier und heute erfuhr sie selbst die Macht der Gefühle. Gefühle konnten sehr wohl eine Menge – vielleicht nicht entschuldigen – aber sicherlich erklären.
»Das ist schon die dritte Zigarette, die sie nur halb geraucht in den Ascher stopfen«, hörte sie plötzlich eine angenehm dunkle Stimme sagen. Sie blickte hoch. Der Mann, dem ihre Gedanken eigentlich gelten sollten, stand vor ihrem Tisch.
»Ich beobachte Sie schon eine Weile«, meinte er, »und mir scheint, Sie haben Kummer. Wenn Sie möchten, dürfen Sie gern mit mir darüber reden. Manchmal ist es leichter, mit einem Fremden zu reden als mit einer Freundin.«
Abwartend stand er da. Ali schaute ihm ins Gesicht und war von seinen klugen grauen Augen angenehm berührt. Sie strahlten Verständnis und Mitgefühl aus. Warum nicht, dachte sie. Auf diese Weise könnte sie vielleicht sogar das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Folglich nickte sie zustimmend. »Vielleicht haben Sie recht. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Er holte seine gefüllte Tasse, nahm ihr gegenüber Platz und wartete einfach ab.
»Warum müssen Beziehungen immer so kompliziert sein?«
»Das liegt in der Natur des Menschen. Kein Mensch ist einfach, denken Sie nur mal darüber nach, wie viele Faktoren eine einzige Handlung bestimmen. Früher gemachte Erfahrungen, vielleicht sogar noch Erfahrungen aus der Kindheit, Wünsche oder Gier, möglicherweise auch Ängste, Hoffnungen, eine Mischung aus Gefühl und Verstand. Und jetzt treffen zwei Menschen zusammen, die sich eigentlich fremd sind aber doch zusammenbleiben wollen. Das muss einfach Komplikationen ergeben. Alles andere wäre unrealistisch, oder nicht?« Sein Lächeln war mitreißend.
»Das ist eine Erklärung, aber keine Hilfe«, erwiderte sie leicht aggressiv.
»Nein, da haben Sie wohl recht. Aber Hilfe, wirkliche Hilfe finden Sie nur in sich selbst. Sie allein können entscheiden, was für Sie wichtig ist und die richtigen Prioritäten setzen. Ich kann Ihnen nur Hilfestellungen geben, Hilfe zur Selbsthilfe sozusagen. Sie müssen erkennen, was an Ihrer Beziehung geändert werden muss und wie. Worum geht es Ihnen? Um den anderen Menschen oder um Ihre Freiheit?«
Seltsam, sie merkte plötzlich, wie sie begann, dem Mann ihre Geschichte zu erzählen. Nicht alles, den Partnertausch ließ sie aus, das ging niemanden etwas an. Und während des Sprechens spürte sie, wie einfach eigentlich alles war. Sie liebte Herbert nicht mehr, und Herbert liebte eine andere. Da gab es nur eine Lösung. Warum sträubte sie sich so dagegen? Wieder verschob sie das Nachdenken darüber auf später. Wenn sie schon einem Fremden soviel über sich erzählte, dann wollte sie einen Gegenwert haben. Wer war er, und was hatte er mit der Zils zu tun? Also fragte sie vorsichtig nach seiner Beziehung.
»Sie sind sicher glücklich verheiratet, so wie Sie reden?«, meinte sie und blickte demonstrativ auf seinen Ring.
»Meine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben. Aber es gibt jemanden, den ich sehr gern mag.«
»Das freut mich für Sie.« Ali zögerte merklich, bevor sie fortfuhr. »Sie strömen soviel Verständnis aus, dass ... nun ich will nicht neugierig sein, aber ...« Sie verstummte. Natürlich war sie neugierig und natürlich wusste er es. Aber das Angebot, miteinander zu reden, war von ihm ausgegangen.
»Sie ist eine wunderbare Frau, und ich mag sie sehr. Sie ist jünger als ich, aber das macht nichts. Manchmal kann ich es gar nicht glauben, dass sie sich mit einem alten Kerl wie mich abgibt.«
»So alt können Sie doch noch gar nicht sein.«
»Sechsundsechzig. Aber«, seine Stimme wurde leise, fast ein wenig verschämt, »ich war mal bei einem indischen Wahrsager, der sagte mir, ich würde meine Vitalität bis Anfang neunzig behalten. Das heißt, ich habe noch fünfundzwanzig schöne Jahre vor mir. Und die werde ich genießen.«
Ali verschlug es die Sprache, aber nur fast. Irgendwie musste sie herausfinden, ob die Zils die Angebetete war. Falls ja, war die Liebe wohl sehr einseitig.
»Nein wirklich?«, rief sie überrascht. »So alt sehen Sie aber nicht aus, ganz und gar nicht. Da kann sich Ihre Freundin aber glücklich schätzen. Ist sie viel jünger?«
»Hm, sie ist Mitte dreißig. Aber ganz anders als andere Frauen in ihrem Alter, gebildet, kultiviert, klug, einfach großartig. Sie arbeitet bei der Sparkasse. Da muss sie Menschen einschätzen können.«
Also doch! Aber Christina war doch in
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