Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Sie schwieg, versunken in schlimme Erinnerungen. Helga traute sich kaum zu fragen, doch dann siegte die Neugier.
»Wir waren eine Clique von fünf Ehepaaren. Die Männer kannten sich von früher. Irgendwie ist die Freundschaft erhalten geblieben. Vielleicht, weil wir uns nicht so häufig sahen. Aber ab und zu unternahmen wir gemeinsam etwas. Und dieses Jahr sind wir gleich nach Weihnachten nach Gran Canaria geflogen.« Sie schwieg. In ihren Augen glitzerten Tränen. »Es passierte bei einer Autotour durch die Berge. Wir hatten einen Kleinbus gemietet, den Hubertus fuhr. Er hatte früher mal den passenden Führerschein gemacht. Wir waren fröhlich, haben Witze gerissen und gelacht. Und dann hat er irgendwie die Gewalt über das Fahrzeug verloren. Die Kurve zu eng genommen, ich weiß es nicht. Jedenfalls ... der Wagen rutschte den Abhang runter. Eine Vordertür sprang auf und ... ein paar von uns waren nicht angeschnallt. Meine Güte – in einem Kleinbus, im Urlaub, auf staubigen Pisten, wer denkt da ans Anschnallen? Jetzt sind sie tot«, schloss sie unvermittelt. Helga bemerkte, wie sie die Zähne zusammenpresste, um ihre Beherrschung zu wahren. Die Worte klangen unbeteiligt, doch sie blickte zur Wand, wischte scheinbar zufällig mit der Hand übers Gesicht, das wie versteinert wirkte. Der Unfall auf der Ferieninsel. Helga erinnerte sich, in den Zeitungen einen Bericht darüber gelesen zu haben. Aber da die Namen nicht ausgeschrieben worden waren, hatte sie ihn schnell wieder vergessen.
»Übrigens, Rufus Wohlfang war auch dabei. Du kennst ihn sicher.«
»Rufus Wohlfang? Der Lehrer? Der Anfang der Woche ermordet worden ist?«
»Ermordet?«
»Sag’ bloß, du liest keine Zeitung? Es steht doch überall in dicken Schlagzeilen.«
»Nein. Seit ... seit wir zurück sind, habe ich in keine Zeitung mehr geguckt und auch mit keinem aus unserem Kreis gesprochen. Ich wollte einfach nichts Schlimmes hören, an nichts Böses denken. Ich wollte nur meine Ruhe haben.« Sie schwieg. Erst nach einer langen Weile fragte sie: »Wie ist es passiert?«
Helga berichtete, was sie wusste. Anna Pawalek hing in sich zusammengesunken auf ihrem Stuhl. Einen Moment überlegte Helga, ob es richtig war, weiteren Kummer auf ihre Kollegin zu laden, doch sie konnte die Realität nicht schön reden. Auch Wohlfang war tot. Eines brutalen Todes gestorben. »War seine Frau auch dabei?«, fragte sie am Schluss.
»So war es geplant, aber sie bekam kurz vor Weihnachten die Grippe, keine Erkältung sondern eine richtige schlimme Grippe. Deshalb blieb sie zu Haus. Die Tickets hatten sie schon besorgt. Rufus machte noch Witze, ob die Rücktrittskostenversicherung zahlen würde. Und jetzt ... Es ist so schrecklich! Alfons und Katja liegen noch im Krankenhaus. Inzwischen geht es ihnen einigermaßen. Zumindest sind sie außer Lebensgefahr. Katja hat einen Leberriss, der genäht werden musste, und die Milz haben sie ihr, glaube ich, auch rausgenommen und Alfons ... Ich weiß gar nicht, ob ihm schon jemand gesagt hat, dass seine Frau nicht überlebt hat. Der arme Kerl! Liegt da hilflos, während seine Frau beerdigt wird. Mein Gott, das kann man sich nicht vorstellen, wie das ist, da eingeklemmt im Auto zu liegen und zu warten und zu hoffen, dass jemand kommt und Hilfe holt und ...« Jetzt weinte sie leise vor sich hin. Verlegen streichelte Helga ihr über die Hand. »Dein Mann?«, fragte sie scheu.
»Ihm geht es den Umständen entsprechend gut. Außer Blutergüssen, Schädelhirntrauma und ein paar Schnittverletzungen hat er nichts abbekommen, zumindest nicht körperlich. Der Arzt will ihn zur Psychotherapie schicken, weil er nicht mehr schlafen kann und diese Bilder nicht loswird. Wir haben unglaubliches Glück gehabt. Ich habe drei Kerzen angezündet.«
Eine tapfere Frau, dachte Helga. Trotzdem sollte sie nicht allein sein. Nicht in dieser Verfassung. »Wie kommst du heim?«
Anna blickte mit verweintem Gesicht auf. »Entschuldige.« Sie verschwand Richtung Toiletten. Helga schaute auf die Uhr. Wenn sie noch auf dem Markt einkaufen wollte, wurde es höchste Zeit. Dann dachte sie an Anna und schämte sich. Die Frau hatte Unglaubliches hinter sich, brauchte Trost und Aufmunterung und sie, Helga, dachte ans Einkaufen. Vielleicht sollte sie ein bisschen Verantwortungsgefühl zeigen und Anna nach Hause begleiten. Manchmal war sie froh über ihren gesunden Egoismus, und manchmal, so wie heute, verabscheute sie sich selbst. Sie hatte wahrlich keine Lust, bis
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