Renner & Kersting 03 - Mordsgier
verschwand.
Nach einem Blick auf die Uhr beschloss Helga, auch ohne ihre Zeitungslektüre beendet zu haben, den Markt zu besuchen. Sie brauchte Obst und Gemüse. Vielleicht war es ein Vorurteil, aber sie war überzeugt, das Gemüse vom Markt schmecke besser. Da sie keine Lust verspürte, bei dem scheußlichen Wetter zu Fuß zu gehen und auf dem Heimweg schwere Taschen zu schleppen, stieg sie ins Auto. Draußen war es grau, diesig und nass. Die letzten Reste schmutzigen Schneematsches schmolzen dahin. Natürlich, die Tiefgarage unter der Springe war besetzt. Warten wollte sie nicht, also drehte sie eine Runde und fand einen Parkplatz hinter Sinn. An der roten Ampel am Bergischen Ring sammelte sich wie üblich eine dichte Menschentraube. Helga wartete an der Bordsteinkante. Als ein Bus anfuhr, wollte sie zurücktreten, um nicht bespritzt zu werden, und spürte im selben Moment eine ruckartige Bewegung neben sich. Eine Frau war ins Stolpern geraten und wäre vor den Bus gestürzt, wenn Helga nicht geistesgegenwärtig zugegriffen und die Strauchelnde mit soviel Schwung zurückgerissen hätte, dass beide zu Fall kamen. Glücklicherweise auf dem Gehsteig. Die Umstehenden halfen ihnen wieder auf die Beine und klopften die Kleidung ab.
»Wie konnte das nur passieren?«, fragten die einen. »Da haben Sie aber Glück gehabt«, meinten die anderen.
»Tut mir leid«, stotterte Helga, »aber beinahe wären Sie auf die Straße gestürzt.«
»Das war ... Helga, na so was!«
Helga starrte die Frau an, deren Gesicht von einem ausladenden Hut mit breiter Krempe und Federbüschel beschattet wurde. Anna Pawalek, eine ehemalige Kollegin. In der Schule hatten sie sich stets gut verstanden, doch seitdem Anna nicht mehr im Dienst war, sahen sie sich nur noch unregelmäßig, meist samstags morgens in der Stadt beim Einkaufen, bei Opernaufführungen im Theater – Anna kannte keine angenehmere Entspannung als Oper – oder wenn es im Hasper Hammer Kabarett gab.
»Anna! Schön, dich zu treffen! Wie geht es dir?« Trotz der voluminösen Kopfbedeckung konnte Helga Spuren von Abschürfungen und Hämatomen im Gesicht erkennen, die bestimmt nicht von dem Sturz gerade eben herrührten. Sie mochte Anna, obwohl oder vielleicht gerade weil diese häufig exzentrisch dachte und handelte, weshalb ihre Stimme warm und voller Mitgefühl war als sie fragte: »Hattest du einen Unfall?«
»Das ist eine lange Geschichte. Reicht deine Zeit für einen Kaffee?«
»Aber ja. Einkaufen kann ich nachher noch.«
»Wohin?«
»Wie wäre es mit Fischer? Dort gibt es prima Torten. Ich finde, nach dem Sturz haben wir uns eine Stärkung verdient.«
Bei der nächsten Grünphase überquerten sie die Straße. Anna bestimmte das Tempo, sie bewegte sich etwas steif und langsam. »Nun, was macht die Schule? Seid ihr endlich wieder im eigenen Gebäude?«
Anna wusste bereits von der Renovierung und ihrer Umsiedlung ins Gymnasium. »Eigentlich sollten wir schon vor den Weihnachtsferien umziehen, aber wir werden wohl noch bis Ostern warten müssen.«
Sie betraten das Café, und beide bestellten ein Stück von der verlockend aussehenden Marzipantorte. »Ist es so schlimm?«, fragte Anna mitfühlend, als die Kellnerin gegangen war. Da hatte sie Helgas Stimme und Mimik mal wieder mehr entnommen als diese geäußert hatte.
»Du kennst doch unsere Kinder. Jeden Tag Streit und Zank und Prügelei. Nachmittags dann die Beschwerden der Eltern in einem Ton, dass mir die Lust an jeglicher Unterhaltung vergeht. Es schimpfen immer die am lautesten, die sich selbst nicht kümmern, deren Kinder den ganzen Nachmittag auf der Straße verbringen. Und natürlich waren es immer die anderen, die ihre armen Kleinen geärgert und belästigt haben. Und natürlich bin ich an allem schuld. Manchmal steht es mir bis obenhin«, fügte sie genervt hinzu. »Aber jetzt bist du dran. Wie geht es dir? Was habt ihr in den Weihnachtsferien gemacht? Blöde Frage, du hast ja derzeit immer Ferien.« Anna Pawalek hatte sich beurlauben lassen. Nachdem ihr Mann einen Herzinfarkt überstanden und sein Geschäft verkauft hatte, wollte sie gemeinsam mit ihm das Leben genießen – ohne Stress und ohne Arbeit.
»Wir waren mit ein paar Freunden auf Gran Canaria. Daher auch die verrenkte Schulter und die Prellungen.« Sie zeigte auf ihr Gesicht. »Eventuell steht mir noch eine OP bevor. Trotzdem haben wir unheimlich Glück gehabt, mein Mann und ich. Drei unserer Freunde sind ... sind bei dem Unfall gestorben.«
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