Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Wiese. Sie sah so blass aus. Blut tropfte aus der Nase und einem Ohr. Brigitte? Wo war Brigitte? Sie hatte auf der Seite gesessen, die jetzt unten lag. Ihr seltsam verrenkter Körper, eingequetscht zwischen den Sitzen, sagte alles. Dieses Bild würde sie nie vergessen. Wie Rufus ein wenig abseits stand, mit leeren Augen auf das zerstörte Auto starrte und nicht aufhören konnte, sich zu bekreuzigen. Ein Arm hing reglos von der Schulter herab, der andere bewegte sich ruckartig auf und ab. Schmerzen schien er in dem Moment nicht zu spüren. Seltsam, wie manche Menschen unter Schock handeln, dachte Anna. Während Dieter versuchte, Werner zu befreien – wieder brüllte er: ›Keine Panik! Wir schaffen es!‹ – hinkte sie nach vorn zum völlig zerquetschten Kühler. Jetzt erst, als ihr Bewusstsein wieder klar einsetzte, spürte sie brennenden Schmerz in der Schulter. Ihr schien, Hubertus habe sich bewegt. Er war hinter dem Steuer fest geklemmt. Glassplitter und Fetzen vom Airbag bedeckten sein Gesicht. Alles war rot von Blut. Zusammengepresste Metallstücke hatten sich in seinen Körper gebohrt. Sie zwang sich, nicht hinzuschauen. Als sie sich abwenden wollte, hörte sie sein Flüstern. ›Julia. Was ist mit Julia?‹ Die Wahrheit würde seinen Tod beschleunigen. Sollte er überleben, konnte man sie ihm später immer noch sagen. Folglich log sie und versicherte, dass Julia am Leben sei. Vorsichtig entfernte sie ein paar Splitter und strich ihm tröstend über die Wange.
Anna nickte, als er darum bat, sich um Julia zu kümmern. Sie blieb neben ihm, bis er die Augen endgültig schloss. Wenige Minuten später erschien der Rettungswagen.
Da war Dieter noch bei ihr gewesen und trotz des Todes der drei Freunde und des Krankenhausaufenthalts machten ihr die zermürbenden Fragen der Polizisten und die unvermeidlichen Formalitäten nichts aus. Dieter gab ihr die Kraft. Ungeachtet aller Verletzungen fühlte sie sich irgendwie heil. Jetzt fehlte eine Hälfte. Und die Wunde schmerzte mehr als sie sagen konnte. Helga war nett und hilfsbereit, aber niemand vermochte Dieter zu ersetzen. Niemand konnte ihr die Angst nehmen, die sie mehr und mehr zu beherrschen drohte.
Helga redete auf sie ein. Es dauerte einen Moment, bis Anna wieder klar denken konnte.
»... waren nicht angeschnallt. Glaubst du, das alles hätte jemand manipulieren können?«
»Vielleicht ... vielleicht hat der ja was am Motor gedreht, dass der Wagen geradeaus fahren musste.«
Eine wunderbare Idee für einen Krimi, aber in der Realität schien Helga das eher unwahrscheinlich. Folglich schüttelte sie den Kopf. »Ihr wart doch schon eine Zeit lang unterwegs, und da fuhr das Auto ganz normal. Hätte Hubertus in dem Moment nach vorn geschaut, wäre nichts passiert. Dieter hatte eindeutig einen Unfall. Du weißt, dass sein Herz schwach war. Und Rufus ... nun, für dessen Tod gibt es zahlreiche Motive. Die Polizei wird den Täter finden. Anna, du regst dich unnötig auf. Wer weiß, was im Krankenhaus geschehen ist. Falls da jemand unsauber gearbeitet hat ... ich meine, man hat doch oft genug gelesen, dass die Hygiene in Krankenhäusern zu wünschen übrig lässt. Und falls es sich um einen Ärztefehler handelt ... wird das niemand zugeben. Es sei denn, du überredest die Kinder zu einer Autopsie.«
»Ob sie das tun? Sara studiert in Münster Pädagogik, Sven in Heidelberg Medizin. Aber zurzeit sind sie beide hier. Seit ihre Mutter bei dem Unfall ... Sie werden doch sicher wissen wollen, was geschehen ist. Und Sven als Medizinstudent wird doch keine Probleme damit haben, wenn der Vater ... du weißt schon. Ich rufe gleich morgen früh an. Oder nein, besser, ich gehe hin. Aber ... allein traue ich mich nicht hinaus. Kannst du mitkommen?«
Bei allem Mitleid und Verständnis, aber Helga hatte keine Lust, bei Anna den Babysitter zu spielen. Andererseits ... falls tatsächlich etwas geschehen sollte, würde sie sich ihr Leben lang Vorwürfe machen. Also dann lieber den Samstagmorgen opfern. Aber irgendwann an diesem Wochenende musste sie auch noch mit Klaus über Thodes Alibi reden. Es gab da etwas, das Klaus übersehen hatte.
»Ich weiß ja, dass ich viel verlange. Aber bevor das nicht alles geklärt ist, wage ich mich nicht mehr allein aus dem Haus.«
»Ist gut.« Schweren Herzens gab Helga nach. »Ich werde bleiben und morgen mit dir zu Sara und Sven Rescheid fahren. – Aber jetzt lass uns mal überlegen, welchen Grund es geben kann, euren Freundeskreis zu
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