Renner & Kersting 03 - Mordsgier
So hat das Ganze keinen Sinn.«
Anna starrte sie ungläubig an. »Du kannst doch nicht ...« Helga nickte. Es fiel ihr nicht leicht, aber sie glaubte, nur auf diese Weise helfen zu können. »Du musst mir alles berichten, aber bitte so, dass ich es verstehe. Hysterie bringt uns nicht weiter.«
Anna riss sich sichtlich zusammen. »Ich werde es versuchen. Gib mir noch was zu trinken.«
Dieses Mal reichte Helga ihr ein halb gefülltes Glas. »Du hast längst genug. Das ist der Letzte. Ich koche jetzt Tee. Komm mit in die Küche.«
»Vergewissere dich erst, dass die Jalousien runtergezogen sind.«
Verwundert gehorchte Helga. Während sie Wasser aufsetzte, ließ Anna sich schwer am Küchentisch nieder. »Entschuldige, du kannst ja gar nicht wissen, wer Alfons ist. Alfons und Brigitte Rescheid gehörten auch zu unserem Kreis. Brigitte ist bei dem Unfall gestorben, Alfons hatte, wie gesagt, einen komplizierten Beinbruch. Er wusste nicht, ob er das Bein je wieder normal würde gebrauchen können. Es bestand die Gefahr, dass es steif blieb. Aber so etwas ist doch nicht lebensgefährlich. Und jetzt ist er tot. Katja rief heute Mittag an. Sie liegt auch im Krankenhaus. – Verstehst du denn nicht? Wir waren zehn Freunde. Und jetzt leben nur noch vier von uns. Und jemand hat versucht, mich umzubringen. Da ist einer hinter uns her, der will uns alle ermorden. Und die Polizei hält mich für spinnert, für eine hysterische Alte.«
Helga konnte verstehen, wieso die Beamten zu dem Schluss gekommen waren. So wie Anna hier saß, verheult, am Rande eines Nervenzusammenbruchs, vermochte man sie durchaus für nicht zurechnungsfähig zu halten.
»Erst Hubertus, Julia und Brigitte. Und jetzt Rufus, Dieter und Alfons. Und ich soll die Nächste sein. Ich habe Angst.« Das war nicht zu übersehen. Ihre Hände zitterten, die Augen flackerten, sie hielt den Kopf leicht geneigt, als lausche sie auf jedes Geräusch.
»Das auf Gran Canaria war doch eindeutig ein Unfall. Hubertus fuhr, redete, lachte und hatte sich nach hinten umgedreht, als die Kurve kam.« Gebetsmühlenartig wiederholte Helga, was sie Anna schon mehrfach erklärt hatte.
»Das stimmt. ›Guck nach vorn, du Idiot‹, hat noch wer gerufen, und dann ... dann war es auch schon passiert.« Diesen Moment würde sie nie im Leben vergessen. Sie konnten höchstens eine Sekunde durch die Luft geflogen sein bevor der Aufprall kam, aber Anna kam sie vor wie eine Stunde. Sie sah ihr Leben buchstäblich vor sich und war nicht einmal überrascht. Zu oft hatte sie darüber gelesen. So ist das also, wenn man stirbt, dachte sie und hörte gleichzeitig die Stimme der Mutter, die ihr verbieten wollte, den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Sie heirateten ohne den Segen ihrer Eltern, und aus dem Schuhverkäufer wurde der stolze Besitzer mehrerer Geschäfte in und um Hagen. Sie teilten Glück und Leid miteinander. Als ihr Kind kurz nach der Geburt starb, und der Arzt ihr sagte, sie könne keine weiteren Kinder bekommen, war Dieter ihr einziger Trost. Allein seine Liebe und sein Verständnis hielten sie am Leben. Von Anfang an hatten sie sich Kinder gewünscht, wenigstens zwei. Dieser Traum endete plötzlich von einer Sekunde zur anderen. Dieter hatte sich in seine Arbeit gestürzt, und sie hatte wieder an der Grundschule angefangen. Als er dann nach dem Infarkt auf Leben und Tod in der Klinik lag, war es allein der Gedanke, dass er sie brauchte, der sie aufrechterhielt. Er hatte seine Geschäfte verkauft, um der Hektik und dem Stress des Arbeitslebens zu entgehen und in Frieden mit ihr den Rest seines Lebens zu genießen. Schade, dass es nun vorbei sein würde. Aber sie würden gemeinsam sterben, und das tröstete sie ungemein. Sie schloss die Augen. Da kam er, der Aufprall. Das schreckliche Knirschen von Metall. Nur einen winzigen Moment. Dann Ruhe, Dunkelheit und Stille.
Als sie wieder zu sich kam, hörte sie laute Schreie, spürte Schmerzen am ganzen Körper, schmeckte Blut. Und dann die Verwunderung: Ich lebe ja noch. Eine schrille laute Stimme, die in den Ohren wehtat, brüllte immer wieder: ›Keine Panik! Wir schaffen das!‹ Sie fühlte, wie jemand an ihr zerrte. Das Auto lag auf der Seite. Dieter zog sie durchs Fenster hinaus. Ihr Dieter. Er lebte! Voller Erleichterung drehte sie mühsam den Kopf. Nicht weit entfernt lag Julia. Das Gesicht ... ›Sieh nicht hin! Hier, nimm Katjas rechten Arm!‹ Zu zweit zogen sie Katja heraus und legten sie vorsichtig auf die mit Felsbrocken übersäte
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