Reptilia
Müdigkeit und Resignation wie weggeblasen. Bildfragmente brandeten in zusammenhangloser Folge über mich hinweg wie Wellen über einen Felsen. Sie waren allerdings in ihrer Deutlichkeit kaum mehr als ein flimmerndes Stakkato von Fernsehbildern. Entweder war ich verrückt geworden oder ich litt an den Folgen eines Gehirntraumas, das von Maloneys Prügeln herrührte. Vielleicht gab es aber noch eine dritte Möglichkeit. Plötzlich fiel mir mein Erlebnis auf dem Grund des Sees wieder ein. Die merkwürdigen Signale, die ich dort unten empfangen hatte. Die Bilder, die Worte, die Sprache. Mochte hier vielleicht ein Zusammenhang bestehen? Vielleicht war ich nicht verrückt, und es handelte sich wirklich um Mokéles Gedanken. Die Idee war geradezu absurd. Und doch …
Handelte es sich etwa um eine rudimentäre Form von Telepathie? War es das, was Sarah mir bei unserem Telefongespräch zu verstehen geben wollte, als sie von einem »gefährlichen Geheimnis« sprach? Waren diese Signale vielleicht der Schlüssel, um mit dem Reptil in Kontakt zu treten? Wenn Mokéle wirklich telepathisch veranlagt war, hätten Elieshi und ich zumindest eine Erklärung für den Zweck dieser ungeheuren Datenmengen in seinem Erbgut gefunden. Mir fielen die Worte aus Emilys Tagebuch wieder ein: »Sie haben eine Gabe, die wir nicht verstehen.«
Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob ich Recht hatte, aber ich musste mich beeilen, denn allzu viel Zeit würde mir nicht mehr bleiben. Ich konzentrierte mich bei dem Versuch, alle unnützen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Ich musste versuchen, Mokéles Gedanken aus meinen eigenen herauszufiltern.
Nach und nach gewannen die Bilder an Schärfe und Kontur. Ich glaubte, vertraute Motive wie den See, den Dschungel und das Grasland zu erkennen, andere wiederum waren vollkommen abstrakt. Sie erschienen mir wie eine chaotische Ansammlung von Fotos, ähnlich einer Collage, die ein wild gewordener Künstler zusammengeschnipselt hatte. Doch je länger ich mich konzentrierte, desto deutlicher wurde, dass sich hinter den Bildern ein wiederkehrendes Muster verbarg. Ein Muster, das keine Inhalte transportierte, sondern Gefühle. Emotionen, die mich in ihrer Klarheit und Ausdruckskraft überwältigten. Die Wut und Trauer, die in ihnen lag, war von solcher Intensität, dass meine blinden Augen sich mit Tränen füllten. Ein seltsamer Gedanke überkam mich. Konnte es sein, dass ich, weil mein Geist nach fremden Bildern dürstete, die nötige Sensibilität gewonnen hatte, um mich auf die fremden Gedanken einzulassen. Das hieße, dass meine Blindheit es erst ermöglicht hatte, mit dem Wesen in Kontakt zu treten. Ich spürte, dass ich der Lösung des Rätsels sehr nahe war. Die Stimmen, die Bilder, unsere Labortests, die Erlebnisse im Tempel, all das machte plötzlich Sinn. Mokéle m’Bembé war ein Sprung in der Evolution, genau wie Elieshi es gesagt hatte. Er war das erste und einzige Lebewesen, das die Telepathie, also die Fähigkeit, mithilfe von Gedanken zu kommunizieren, als eigenständige Sinnesleistung ausgebildet hatte.
Erneut erklang das Rauschen, doch diesmal war es bedrohlich nah. Beinahe zeitgleich schlug eine Welle aus Wut und Empörung über mir zusammen. Mokéle hatte offenbar erkannt, welche Gefahr von meinem Floß ausging. Er hatte den Sinn dieser Tötungsvorrichtung meinen Gedanken entnommen.
Ich musste jetzt handeln, und zwar schnell. Die Muster, die ich empfing, handelten immer öfter vom Tod, und ich brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass damit mein eigener Tod gemeint war. Voller Verzweiflung ergriff ich die letzte Möglichkeit, die mir zu meiner Verteidigung noch geblieben war. Auch wenn ich wenig Hoffnung hatte, dass mein Plan funktionieren würde. Wenn Mokéle Gedanken aussenden konnte, dann war er mit Sicherheit auch in der Lage, Gedanken zu empfangen.
Ich konzentrierte mich mit aller Kraft auf die Sprengvorrichtung, wobei ich mich bemühte, kein Detail auszulassen. Mein innerer Blick schweifte über die Kunststoffzylinder, über die Drähte, mit denen sie verbunden waren, bis hin zu der Kabeltrommel, die mit dem Auslöser verbunden war. Immer wieder rief ich mir das Szenario vor Augen, was geschehen würde, wenn Maloney den Knopf drückte. Ich stellte mir vor, wie der Zündfunke seinen Weg durch das Kabel suchte, wie er das Floß erreichte und die Sprengsätze aktivierte. Ich stellte mir die unvorstellbare Wucht vor, mit der das Floß explodieren würde, die Druckwelle,
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