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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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als völliger Laie zu outen.
    Der Mann schien meine Unkenntnis sogar willkommen zu heißen. Verschwörerisch lächelnd beugte er sich zu mir herüber. »Das erraten Sie nie. Pygmäen. Hätten Sie gedacht, dass die zu so etwas fähig sind?«
    Ich wusste nicht, wie ich diese Bemerkung einschätzen sollte, daher hielt ich lieber den Mund. Nach meinen Informationen besaßen die Pygmäen in ihrem Land keinerlei Rechte. Sie wurden behandelt wie die unterste Schicht des Bodensatzes, und ich tat sicher gut daran, mich nicht schon im Flugzeug auf eine Diskussion über Unterdrückung einzulassen.
    »Schön, nicht wahr, und günstig dazu«, fuhr der Schwarze neben mir unterdessen fort, ohne zu merken, dass meine anfängliche Sympathie für ihn zu schwinden begann. »In Paris sind sie zurzeit ganz wild danach. Es gibt sogar eine neue Kunstrichtung, die auf Motiven der Pygmäen beruht. Damit ist im Moment viel Geld zu verdienen.«
    Ich tippte auf das Elfenbein. »Ist der Export von Elfenbein nicht verboten? Ich dachte, Elefanten stehen nach internationalem Recht unter Schutz.«
    »Sie stammen aus Zuchtbeständen«, wiegelte der Mann ab. Für meine Ohren ein wenig zu hastig. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Bestände der Waldelefanten in den letzten zehn Jahren um beinahe die Hälfte geschrumpft waren. Schuld waren wohl Händler aus dem Sudan und der Republik Zentralafrika, die weiterhin ungehindert wilderten. Ob der Kunsthändler in solche Machenschaften verwickelt war oder nicht, vermochte ich nicht zu sagen.
    »Heute gibt es für jedes Stück aus Zuchtbeständen ein Zertifikat«, deklamierte er derweil unverdrossen. »Mein Aktenschrank ist voll davon. Die Jagd nach Elfenbein ist zu Ende.« Er hüllte sich kurz in Schweigen, doch dann tippte er mit dem Finger an die Plexiglasscheibe. »Wissen Sie, wie man die Küste da unten bis vor kurzem noch genannt hat? … Goldküste. Elfenbeinküste. Sklavenküste.« Er nickte bedeutungsschwer. »Dies hier war eine Hochburg der Sklaverei. Die Stoßzähne der Elefanten wurden von Sklaven aus dem Dschungel hierher transportiert und verschifft. Und das alles zum Wohle des weißen Mannes. Damit sich die Reichen in ihren Bürgerhäusern dem Traum von einem unberührten, unschuldigen Afrika hingeben konnten. Pervers, nicht wahr? Sehen Sie, da unten hat es stattgefunden. Ist noch gar nicht so lange her.«
    Ich begann mich unwohl in meiner Haut zu fühlen.
    Der Kunsthändler klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Machen Sie sich keine Gedanken, die Zeiten sind vorbei. Jetzt ist alles anders.« Er hob seine Stimme, damit, wie mir schien, möglichst viele Reisende seine Worte hören konnten. »Jetzt sind wir eine Republik. Wohlanständig, gerecht und marxistisch. Mit einer Regierung, die sich um das Wohl jedes Einzelnen sorgt.«
    Ich runzelte die Stirn. Sprach er so laut, weil er ernsthaft an den Wahrheitsgehalt seiner Worte glaubte, oder weil er befürchtete, dass sich im Flugzeug unfreundliche Lauscher befanden, die ihn bei einer der zuständigen Behörden anschwärzen konnten?
    In diesem Moment ertönte wieder die Stimme des Kapitäns aus dem Cockpit. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier spricht ihr Kapitän. Wir befinden uns im Landeanflug auf Brazzaville. Wir werden in einer Viertelstunde landen. Zur rechten Seite sehen Sie den Kongo, der in seinem Unterlauf durch die Demokratische Republik Kongo fließt. Er ist der wasserreichste Fluss Afrikas und ergießt sich mit fünfzigtausend Kubikmetern Wasser pro Sekunde in den Atlantik.«
    Ich wandte meinen Kopf, und als ich aus dem Fenster blickte, fühlte ich, wie mein Herz einen Sprung machte. Da war er, der sagenumwobene Kongo. Der gewaltigste Strom Afrikas. Ein silbrig glänzendes Band, das sich durch den Urwald fraß wie eine fette Schlange, während er sich vielfach windend ins Meer ergoss. Was für ein imposanter Anblick. Selbst hier, aus etwa siebentausend Metern Höhe wirkte er Ehrfurcht gebietend. Was für ein kümmerliches Rinnsal war dagegen die Themse, wie sie in ihrem Unterlauf eingezwängt von Industrieanlagen und schmuddeligen Docks dem Meer entgegenvegetierte. Verglichen damit verkörperte der Kongo eine geradezu rohe Kraft. Unbezwingbar und wild. Als ich ihn da so liegen sah, wurde mir mit aller Deutlichkeit bewusst, dass ich den Schutz und die Geborgenheit meiner Heimat endgültig hinter mir gelassen hatte. Ich stand im Begriff, ein Abenteuer anzutreten, das mein ganzes Leben verändern konnte.
    »Da ist er«,

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