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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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noch seine Waffe. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er sie ja im Grasland zurückgelassen hatte.
    Mechanisch, wie eine dieser seelenlosen Maschinen, die sich durch den Urwald fraßen, stand er unter Aufbietung aller Kräfte auf. Das Lager der weißen Frau, das er heute Morgen entdeckt hatte, lag nur wenige Meter links von ihm, sein Schlafbaum irgendwo rechts. Langsam schlurfte er durch den Grasgürtel einige Meter hinein in das kühlende, wohltuende Nass, tunlichst darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen. Er ging in die Hocke und begann sich zu waschen. Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen löste er den Lehm von seiner schmerzenden Haut. Mit jeder Sekunde wurde ihm das Ausmaß seiner Verletzungen deutlicher. Die Schnitte und Schürfungen waren tief und selbst mit den richtigen Heilkräutern nicht binnen einer Woche zu heilen. Noch gravierender war der Bruch des Schlüsselbeins. Sein linker Arm baumelte wie ein nutzloses Anhängsel an ihm herab. Jeder Versuch, ihn zu heben, wurde mit einem glühenden Stich quittiert. Der Verlust seiner Armbrust wog nur noch halb so schwer, denn er hätte sie sowieso nicht spannen können. Seufzend schöpfte er sich mit seinem gesunden Arm Wasser ins Gesicht. Das half ein wenig.
    Mit der nüchternen Kaltblütigkeit eines erfahrenen Jägers berechnete er seine Chancen für eine unbeschadete Heimkehr. Er wog die Zeit ab, die er benötigen würde, um sein Dorf zu erreichen, und setzte sie in Beziehung zu seinem körperlichen Zustand. Als er auch bedachte, dass er seinen Proviant und seine Waffe im Grasland verloren hatte, war die Sache klar. Er würde es nicht schaffen.
    Dieser Gedanke war von solch ernüchternder Einfachheit, dass er sich setzen musste. Es gab keine Fragen mehr zu beantworten und keine Entscheidungen mehr zu treffen. Er würde sterben, so einfach war das.
    Diese Erkenntnis mündete in eine innere Ruhe, betäubte den Schmerz in seiner Schulter und breitete sich von dort wohltuend über seinen gesamten Körper aus. Es war die Gelassenheit der Beute im Angesicht des Jägers. Alle Ängste und Sorgen schienen gebannt. Es entsprach genau dem Gefühl, von dem die Alten ihm immer wieder erzählt hatten. Der Tod war nichts weiter als ein anderer Bewusstseinszustand, eine Fortführung des Lebens auf einer anderen Ebene. Nichts, wovor man sich fürchten musste. Im Gegenteil. Etwas, auf das sich zu warten lohnte. Und genau das würde er tun, hier sitzen und warten.
    Er reckte sein Gesicht in die Sonne und ließ ihre warmen Strahlen über seine Haut streicheln. Ein leichter Wind hatte eingesetzt, der sich in seinen Haaren verfing und den Duft des Wassers zu ihm herübertrug. Ja, so hatte er sich das vorgestellt.
    In diesem Moment vernahm er ein Geräusch, das sich überhaupt nicht in seine Vorstellung vom Jenseits fügen wollte. Es klang wie das Brummen einer riesigen, zornigen Hornisse. Egomo schlug die Augen auf, doch das Geräusch wollte nicht weichen, mehr noch, es schien näher zu kommen. Jetzt konnte er auch hören, dass es sich um einen Motor handelte. Aber er trieb keine von diesen riesigen Waldmaschinen an, dafür war er zu klein.
    Was im Namen der Götter war das? Egomo seufzte. Die Wirklichkeit hatte ihn wieder, der Tod musste warten.
    Er erhob sich und spähte in Richtung Süden, aus der das Brummen kam. Es erinnerte ihn an ein Geräusch, das er vor vielen, vielen Jahren vernommen hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen, und sein Vater hatte ihn mit auf die Jagd genommen. Nie würde er das Erstaunen und die Angst in den Augen seines Vaters vergessen, als plötzlich ein Fluggerät über ihre Köpfe hinweggedonnert war. Das silberne Geschoss war wie aus dem Nichts aufgetaucht und dann wieder verschwunden. Seitdem hatte er nie wieder einen metallischen Vogel gesehen, und er hatte schon angefangen zu glauben, dass er sich das alles nur eingebildet hatte. Doch das Brummen, das jetzt sehr laut wurde, überzeugte ihn vom Gegenteil. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, sich unter einem Strauch zu verstecken, als ein schwarzer Schatten über ihn hinwegglitt. Und dann sah er es. Es war tatsächlich ein Flugzeug. Merkwürdig sah es aus, mit seinen zwei dicken Anhängseln, die unter dem Rumpf baumelten. Auch seine Farbe, Orange mit weißen Streifen, wirkte befremdlich bunt. Die Maschine umrundete den See in einem großzügigen Bogen, und Egomo begann sich zu fragen, wie die Welt von da oben betrachtet wohl aussehen mochte. Plötzlich senkte sich die Nase des Fluggerätes,

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