Reptilia
Konturen hervor. Plötzlich erkannte ich, worauf sie hinauswollte. Die Schallwellen bildeten ein Netz, dessen innere Logik sich erst langsam erschloss. Sie schmolzen zu einem dunklen Punkt zusammen, beinahe wie bei einem Schwarzen Loch, das jegliches Licht in seiner Umgebung zu verschlucken schien. Ich spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken jagte, und ahnte, was Maloney als Nächstes vorschlagen würde.
Zögernd richtete ich meinen Blick auf ihn. »Sie wollen an dieser Stelle doch nicht etwa tauchen, oder?«
Er grinste. »Und ob. Morgen früh. Und Sie werden uns begleiten.«
*
Tief in der Nacht wachte ich auf, geweckt vom ohrenbetäubenden Prasseln eines tropischen Regengusses. Ich blickte unter das dunkle Zeltdach und fragte mich, wann ich wohl endlich mal wieder eine Nacht würde durchschlafen können. Unruhig wälzte ich mich hin und her, doch der erlösende Schlaf wollte sich nicht einstellen. Also knipste ich die Taschenlampe an und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel vor drei. Noch etwa fünf Stunden, bis Maloney, Sixpence und ich zu unserem waghalsigen Unternehmen aufbrechen würden. Diese Aktion barg so viele unkalkulierbare Risiken, dass es mich nicht wunderte, keinen Schlaf zu finden. Also griff ich nach dem verkohlten Tagebuch des Sergeanten Matubo und versuchte die Eintragungen zu entziffern. Mein Französischunterricht lag Jahre zurück, und obwohl ich damals ein passabler Schüler war, tröpfelten die Erinnerungen nur langsam in mein Gedächtnis. Sprachen sind wie Werkzeuge. Wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit benutzt, rosten sie ein.
Ich fand einige Abschnitte im hinteren Drittel des Buches, die verhältnismäßig unbeschädigt und einigermaßen leserlich geschrieben waren.
L‘herbe met secrets pleins. Gérome affirme avoir trouvé quelques pierres étranges. Ils n’appartiennent pas ici loin. Merkwürdig. War mein Französisch wirklich so schlecht, oder pflegte sich Sergeant Matubo seltsam auszudrücken? Das Grasland birgt viele Geheimnisse, stand da. Gérome hat Steine gefunden, die dort nicht hingehören. Obwohl ich weit davon entfernt war zu verstehen, wovon der Offizier da sprach, fesselte mich die Lektüre doch so sehr, dass der Gedanke an Schlaf langsam verblasste. Mühsam, Bruchstück für Bruchstück und unter Aufbietung meiner gesamten Sprachkenntnisse, fuhr ich fort, den Text zu entziffern. Und je weiter ich las, desto neugieriger wurde ich. Ruines mystérieuses , seltsame Ruinen. Dieser Begriff zog mich besonders in seinen Bann, tauchte er doch immer wieder in den handgeschriebenen Zeilen auf. Er machte mich deshalb so stutzig, weil ich mich erinnerte, in irgendeinem Bericht über den Lac Télé gelesen zu haben, dass es sich bei dem Grasland um uraltes Kulturland handelte. Einer Kultur, wohlgemerkt, die sich hier angesiedelt hatte, lange bevor der Urwald gekommen war, und die schätzungsweise fünfundzwanzigtausend Menschen umfasste. Sollten die Soldaten etwa gefunden haben, was so vielen Archäologen zeit ihres Lebens verwehrt geblieben war? Und wenn ja, war es dann möglicherweise gar kein Zufall gewesen, dass sie ihre Stellung nicht aufgeben wollten? Hatten sie ihren Fund vielleicht nur schützen wollen, bis Hilfe aus Brazzaville kam? Fasziniert las ich weiter, und irgendwann begannen sich die Bruchstücke zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Nachdem ich über eine Stunde entziffert und übersetzt hatte, schlug ich das Buch zu. Einerseits konnte ich meine Augen kaum noch offen halten, andererseits war ich überwältigt von dem, was darin berichtet wurde. Nicht die Soldaten hatten die Ruinen gefunden, nein, es war Emily Palmbridge gewesen. Die Soldaten waren nur darauf gestoßen, als sie ihrer Spur gefolgt waren. Sie schien eine Art Tempel entdeckt zu haben, den die Soldaten in ihrer Diszipliniertheit und Staatstreue nur so weit examiniert hatten, wie unbedingt nötig. Vom archäologischen Standpunkt aus betrachtet war das natürlich eine vollkommen richtige Entscheidung. Nichts wäre schlimmer gewesen als eine Horde Soldaten, die in ihrem Eifer alle Spuren zertrampeln. Ich erfuhr allerdings so gut wie nichts Genaues über den Fund. Aber es musste etwas Bedeutsames gewesen sein, sonst hätte Sergeant Matubo nicht gleich darauf das Rettungsteam losgeschickt.
Ich spürte, dass mich nur noch ein kleines Puzzleteil von der Lösung des Rätsels trennte. Das Rätsel, das diese Ruinen, Emily und Mokéle m’Bembé miteinander verband. Ich konnte es kaum erwarten,
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