Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
Lydia sie fest? Und sie staunte über ihre eigene Stimme, die fest und zuversichtlich klang und den Satz formte: „Hör auf zu weinen, es wird alles wieder gut“, während die Zweifel an dem, was sie sagte, ihre Seele zu sprengen drohten.
„Wie geht es Mutter?“, fragte Beate. Jetzt merkte Lydia, dass Beate getrunken hatte.
„Schläft momentan.“
„Wie hat sie es aufgenommen – ich meine … Koko.“
„Ich habe es ihr nicht gesagt. Ich konnte es nicht.“
„Ich verstehe. Dann muss ich auch nicht mit ihr darüber reden. Das war eigentlich der Grund, warum ich hergekommen bin. Ich geh gleich wieder. Grüße sie und sage ihr, dass ich hier war. Ich muss weiter, will mit Raabe sprechen – und heute Abend mit dir – du kommst doch?“ Sie sprach korrekt und zusammenhängend, doch mit bleischwerer Zunge und sehr langsam.
„Eh du gehst, trinken wir eine Tasse Kaffee miteinander“, entschied Lydia bestimmt, fast streng, hakte sie unter und schob sie sozusagen in die Küche, drückte sie sanft auf einen Stuhl am Küchentisch und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Beate schlich an ihrem Rücken vorbei zur Speisekammer. Oma Konrad war leidenschaftliche Kuchenbäckerin. Seit Edmunds Verschwinden ruhten die Zutaten in den Regalen. Darunter auch der gute Pott. Beate brauchte unbedingt einen Schluck. Sie nahm ihn und noch einen zweiten und schlich durch den Gang und aus dem Haus.
Diesmal war das Otterngezücht zu weit gegangen – es hatte Koko gekapert und bekam es jetzt mit ihr zu tun. „Heulen hilft nicht!“, herrschte sie sich an und steuerte Kokos Audi verbissen und schwindelerregend durch die Straßen. Ihr Schutzengel wich ihr nicht von der Seite.
Ein Stück unterhalb der Baustelle – ein weiterer Anbau für die Klinik war im Entstehen – fand sie eine Parklücke zwischen zwei Kleinbussen und parkte ein. Das war mit einem knirschenden Geräusch verbunden, das sie nicht zu deuten wusste, und es interessierte sie nicht weiter. Sie eilte energischen Schrittes zum Hauptgebäude, durchmaß forsch den quadratischen Vorraum, in dem sich rechter Hand die Rezeption befand und der gleichzeitig als Warteraum diente. Alles war unwirklich wie im Traum, doch sie hatte den vollen Durchblick. Zum Beispiel erkannte sie – zur eigenen Bestätigung – an den Wartenden, bleichgesichtig, nervös oder angsterfüllt auf der Vorderkante der Klappstühle sitzend, dass es sich um einen Wartesaal handelte. Einige wenige blätterten zurückgelehnt in Illustrierten. Die meisten hatten überdimensional große Umschläge auf dem Schoß.
Sie fragte sich zur Intensivstation durch, traumwandelnd, aufrechten Ganges, doch der Vorraum zu dieser Spezialabteilung war Endstation, die Tür zum Flur zu den Krankenzimmern verschlossen. Man öffnete ihr nicht, ließ sie nicht zu ihm. „Niemand darf zu Herrn Raabe außer Frau Raabe und die ist bei ihm, Tag und Nacht.“ Marion war also da. Das beruhigte sie, entschädigte sie aber nicht für die Enttäuschung, dass sie auf die Expertenhilfe von Kokos bestem Freund verzichten musste.
Müller lag in Zimmer siebenundzwanzig im zweiten Stock. Das war lebendig erfüllt von seiner Familie, ihrem Lachen, ihrem Scherzen – das hatte Beate gerade noch gefehlt! Schwester Erika konnte sie beruhigen:
„Frau Müller muss in wenigen Minuten wieder zur Arbeit. Sie ist Kindergärtnerin in Seckbach und mit den Kids nur während der Mittagspause hier.“
Beate wollte die Familienidylle auf keinen Fall stören und wartete derweil auf einer Bank im Flur. Die Bank aber wurde zur Gondola, der Flur zum Canal Grande, dessen Strömung sich mehr und mehr steigerte und eine Geschwindigkeit erreichte, der der Gondoliere nicht gewachsen war, das Boot wirbelte im Kreis um die eigene Achse und kenterte. Beate verlor den Halt, kippte vornüber und landete unsanft auf den Fliesen des Flurs. Sie empfand keine Schmerzen, blieb reglos liegen. Verwundert, erstaunt. Langsam stellte sich die Orientierung wieder ein, sie rappelte sich auf, wankte zum Fenster an der Stirnseite des Ganges, öffnete es weit und atmete tief ein. „Scheiß Trinkerei. Ich hör sofort wieder auf damit.“
„Was sagten Sie?“
Beate fuhr herum.
„Habe ich Sie erschreckt? Das wollte ich nicht“, sagte Schwester Erika, „ich wollte Sie vielmehr fragen, ob Sie eine Tasse Kaffee möchten.“
Beate hatte nicht gehört, wie die Schwester die Karre mit dem Geschirr und den Kannen herangefahren hatte. Kaffee, selbst das Gebräu, das
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