Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
erreichen konnte, der gewiss voller Ungeduld auf den Anruf wartete. Es war einfach keine Verbindung zustande gekommen. Er versuchte es jetzt.
„Wir fliegen in einer knappen Stunde zurück, aber die Hiobsbotschaft schon mal vorab: Wir kommen ohne das Phantombild zurück, Huber konnte Duda nicht beschreiben.“
Er hörte Reinfeld antworten, konnte aber nichts verstehen und war auch nicht sicher, ob Reinfeld ihn verstanden hatte. Er antwortete auf gut Glück langsam und laut: „Wir kommen vom Airport aus direkt ins Büro. Also bis dann.“
Beate legte entnervt den Hörer auf. Mehr als ein Dutzend Mal hatte sie in der Kanzlei angerufen. Sie hatten ihn noch immer nicht gefunden, den falschen Taxifahrer. Sie schob die Flasche weg, sprang gereizt auf und schrie die Decke an: „Sie finden ihn nicht, sie finden ihn einfach nicht!“ Sie füllte erneut das Glas und trank es in einem Zug aus. Ihre Nase ragte spitz aus dem rotfleckigen Gesicht mit den tiefen Schatten um die Augen. Sie hatte seit dem Empfang der unheilvollen SMS noch keine Stunde geschlafen, noch keinen Bissen gegessen und es dünkte ihr, als sei seit ihrer panischen Rückkehr aus München nicht ein Tag, sondern eine Ewigkeit verstrichen. „Ich verliere vor Wut, Angst und Sorge noch den Verstand! Begreife nicht, warum dieser verfluchte Mercedes mit der Anhängerkupplung und diesem Evil eye nicht aufzufinden ist – wo doch auch die Polizei nach ihm sucht. Warum geschieht nichts??? Warum schalten sie nicht zuverlässige Leute ein! Ich muss Horst fragen, wie man den Polizeiapparat in Aktion setzt, Himmel noch mal!“
Sie sprang auf und steckte ihr Handy ein. Reinfeld hatte ihr sofortigen Anruf zugesagt, sobald sie den Kerl hätten. Sie schnappte die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und wankte zur Garage. Zuerst nach Mama Konrad sehen. Koko würde das wollen. Mit traumwandlerischer Sicherheit kurvte sie mit mäßigem Tempo durch die Straßen, hielt bei Rot und fuhr bei Grün. Die Häuser standen Kopf. Es störte sie nicht.
Das alte Backsteinhaus in der Bangertsgasse 15 war von Efeu so umrankt, dass die Fassade kaum zu erkennen war. Der Zaun war ebenso umschlungen. Den Briefkasten zwischen dem Geäst fanden von der Straße her nur Heribert, der Briefträger, und Anton, der Zeitungsträger, so blieb Mutter Konrad von Reklameballast weitgehend verschont. Lydia zog die wenigen Briefe und die Frankfurter Neue Presse aus dem Kasten und lief ins Haus. Die alte Dame hatte ihre Grippe noch nicht ausgestanden und musste weiter das Bett hüten. Gottlob zeigte sie derzeit kein Interesse an eingehenden Briefen oder an der Zeitung, es war also ein Leichtes, vor ihr geheim zu halten, dass auch ihr zweiter Sohn inzwischen verschollen war. Das hätte sie auf keinen Fall auch noch überlebt.
„Ich verstehe nicht, dass Konrad mich nicht besuchen kommt”, jammerte sie immer wieder und gab sich dann mit der Antwort zufrieden: „Er hat doch keine Zeit, er muss jede Minute nutzen, um nach Edmund zu suchen.” „Ach ja, mein Gott, bin ich vergesslich”, sagte sie dann, fiel ins Kissen zurück, faltete die Hände und betete.
Lydia legte die Post zusammen mit der Zeitung auf die Kommode im Wohnzimmer, mochte Tante Katrin sie später durchsehen. Tante Katrin, die jüngste Schwester der Schwiegermutter, wollte heute gegen fünf kommen und bis zu Mutters Genesung dableiben. Lydia konnte dann in die Forsthausstraße zurück, zu Beate. Sie hievte ihren noch ungelenken Körper in den Sessel neben dem Kachelofen. Der Gips war heute Vormittag entfernt worden. Sie war zu unsicher auf den Beinen, um die Gehhilfen beiseitezulassen, übte aber immer wieder ein paar Schritte ohne Krücken. Jetzt lehnte sie sich im Sessel zurück und überdachte ihre Situation. Eigentlich wollte sie in ihre Wohnung zurückkehren. Das hatte sie nun, da auch Koko vermisst wurde, nicht mehr im Sinn. Sie konnte Beate jetzt auf keinen Fall im Stich lassen. Was wäre aus ihr vor wenigen Wochen ohne Koko und Beate geworden? Sie hatten ihr in ihrer grenzenlosen Verzweiflung nach Edmunds Verschwinden Halt gegeben.
Die Klingel schreckte Lydia auf. Sie eilte zur Haustür. Da stand Beate vor ihr! Wie gerufen! Lydia warf sich ihr an die Brust, suchte Halt bei der Schwägerin, der sie Halt schuldete und die selbst jeden Halt verloren hatte. Beate hielt sie verstört im Arm, sah um sich und staunte, wieso sie hier vor der Haustür ihrer Schwiegermutter stand und Lydia stützte oder hielt umgekehrt
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