Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
einem absolut überflüssigen Streit davongelaufen. In Pantoffeln, Morgenrock und ohne einen Cent in der Tasche. Und am späten Abend immer noch nicht zurückgekehrt.
Er war verärgert, doch zunächst ohne Sorge. Solches Verhalten entsprach ihrem Temperament, es war nicht das erste Mal, dass sie wegen einer Nichtigkeit ausgeflippt und aus dem Haus gerannt war. Bisher aber hatte sie sich an der frischen Luft nach kurzer Zeit wieder eingefangen und war umgekehrt. Diesmal nicht.
Es war elf Uhr abends. Gustav wärmte sich einen Rest Spaghetti auf, bestreute ihn mit geriebenem Käse und verzehrte die karge Mahlzeit zu einem Glas Rotwein, bevor er zu Bett ging. Der Schlaf kam nicht. Er verbrachte eine Nacht, wie er noch keine durchgemacht hatte, ihm wurde bewusst, wie sehr er Angela brauchte. Im Morgengrauen stand er auf, schlüpfte in seinen Trainingsanzug, holte sein Fahrrad aus dem Keller und fuhr los, in den nebligen Samstag hinein. Wütend trat er in die Pedale, erreichte bald die Oberschweinstiege und fuhr kreuz und quer durch den Stadtwald. Auf dem Stamm einer gefällten Buche hielt er Rast, knabberte Kekse, trank Wasser und träumte davon, dass Angela in diesem Moment in die Wohnung zurückkehrte und mächtig erschrak, weil er nicht zu Hause war. Der Gedanke begleitete ihn hartnäckig um den Vierwaldstättersee, von wo er westwärts weiter und immer weiter bis zum Bieberer Wald radelte, von da nach Süden bis in den Bayerischen Spessart und zur Deutschen Ferienstraße. Beim Überqueren des Mains nach Obernburg verließen ihn die Kräfte. Er gab auf, ließ sich und Fahrrad für sündhaft viel Geld von einem Lasttaxi heimkutschieren und betrat voller Erwartung die Wohnung. Sie war so, wie er sie verlassen hatte. Gustav sank auf die Couch und schlief sofort ein, verschlief den Tag und die anschließende Nacht, schlief bis in den frühen Sonntagmorgen hinein.
Vor Kälte zitternd stellte er sich unter die Dusche und drehte sie so heiß auf, wie die Haut es zuließ. Er zog sich an, bereitete sich ein kräftiges Frühstück und begab sich anschließend aufs Polizeirevier, um eine Vermisstenanzeige zu erstatten.
„Das gehört seit fast einem Jahr zum Alltag“, sagte der Polizist, „das plötzliche Verschwinden von Personen, aber in Bademantel und Hausschuhen ist mir das noch nicht untergekommen. Kann es sein, dass Ihre Freundin die Orientierung verloren hat?“
„Möglich scheint mir bald alles zu sein. Doch bemerkt habe ich bei ihr dergleichen bisher nicht.“
Vom Revier aus begab sich Gustav zu einer Literaturlesung. Er klammerte sich an die Hoffnung, Angela dort putzmunter anzutreffen. Falls nicht – war ihr etwas zugestoßen. Wenn aber doch – hatte sie sich allen Ernstes von ihm abgekehrt. Von beiden Möglichkeiten war eine schlimmer als die andere – er konnte sich nicht entscheiden, was die eine und was die andere für ihn bedeutete.
Am ersten Sonntag jeden Monats fanden Lesungen in der Lounge im Frankfurter Hauptbahnhof statt. Und immer, wenn seine literaturhungrige Gefährtin dort bekannten Schriftstellern lauschte, fand er sich im „Solber-Eck“ zu seinem Stöffche ein.
Gustav bestieg mit gemischten Gefühlen die Treppe zu der Empore über der Schalterhalle. Das Lokal war voll besetzt. Er überblickte im Stehen das Publikum an den kleinen runden Tischen. Angela war nicht darunter. Ein aufmerksamer Kellner schaffte für ihn noch einen Stuhl herbei. Nach einer langen Vorstellungsrede ließ der Moderator vom Hessischen Rundfunk endlich den griechischen Gast zu Wort kommen, den Schriftsteller Markarios aus Athen. Der hielt nun seinerseits das Publikum mit einer ausgedehnten Vorrede auf, ehe er zu Potte kam. Gustav begriff nicht, was Angela an derlei Veranstaltungen fesselte, wo man es mit der Lektüre daheim auf dem Sofa so viel bequemer haben konnte. Seine Blicke wanderten erneut von Tisch zu Tisch. Keine Angela. Endlich las Pedros Markarios aus seinem neuesten Fall für Kostas Charitos und zog seine Zuhörer schnell in Bann.
Am Ende der Lesung – Angela war nicht erschienen – erstand Gustav Markarios´ neustes Buch und reihte sich in die Schlange der autogrammgierigen Leser ein. Dabei malte er sich aus, was Angela für Augen machen würde, falls er sie nachher daheim vorfinden und er ihr das signierte Werk präsentieren würde.
Das Signieren ging zügig voran. Plötzlich flüsterte ihm von hinten jemand zu: „Falls Sie Angela sehen möchten, führe ich Sie gern zu ihr.“ Gustav blieb
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