Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
in der Nibelungenallee. In ihrer Wohnung oben im zweiten Stock schnickte sie die Pumps in eine Ecke, die Handtasche dazu und ihre Jacke und schritt entschlossen zu ihrer Staffelei. Sie klemmte einen neuen Bogen ein. In der nächsten Minute glitt ihr Kohlestift rasant kreuz und quer über die unschuldige weiße Fläche. Ein erster Entwurf Possenphilosphie entstand.
***
Die Umfrage bei den infrage kommenden Tankstellen war vergeblich, wie vorauszusehen war. Raabe verwahrte Edmund Konrads Foto im Handschuhfach und fuhr zu Scholzens, bei denen zu allem Überfluss auch noch eingebrochen worden war. Mama Scholz interessierte sich nicht für die Verwüstung ihrer Wohnung, nahm von dem Tohuwabohu rings um sie her kaum etwas wahr. Die Einbrecher hatten gründliche Arbeit geleistet und das taten nun auch die Kollegen von der Spurensicherung. Auch Herr Scholz war nicht ansprechbar. Er ließ die beiden in Ruhe und beschloss, morgen wiederzukommen. Am andern Tag öffnete eine fremde Frau auf sein Klingeln, eine Verwandte, die damit befasst war, die Wohnung in Ordnung zu bringen. Frau Scholz war in ein Krankenhaus gekommen und ihr Mann zu Besuch an ihrem Krankenbett.
Zurück im Präsidium sprang er über seinen Schatten und rief Hübner an.
„Darf ich mich erkundigen, was Ihre Recherchen zu der Entführungsserie inzwischen erbracht haben, Herr Kollege?“
„Vermisstenserie, Herr Kollege, Vermisstenserie! Es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf Entführungen. Entführer pflegen Forderungen zu stellen. Das ist in keinem einzigen Fall geschehen. Auch sonst gibt es kein Indiz, das für Entführungen spricht. Die wirtschaftliche Situation im Lande hat zu einer Aussteigerepidemie geführt, die langsam Lawinencharakter annimmt. Begreifen Sie das bitte, Herr Kollege, und wenden Sie sich ihrem eigenen Ressort zu. Wie kommen Sie mit dem Tötungsdelikt Hans Scholz voran?“
Raabe knallte den Hörer auf und öffnete seinen Kragenknopf. Er brauchte frische Luft. „Mein Handy ist eingeschaltet, falls etwas sein sollte“, sagte er zu Knöpfle und eilte aus dem Büro. Den Golf ließ er im Polizeihof stehen und marschierte mit angesammelter Wut im Bauch im Regen durch die Adickes-Allee, murmelte in den hoch gestellten Kragen: „Das Rindvieh denkt nicht daran, dem Phänomen nachzugehen. Wirtschaftliche Situation, dass ich nicht lache – die ist schon gründlich mieser gewesen. Außerdem lassen Männer aus einer solchen heraus nicht ihre Familien im Stich, Mütter ihre Kinder, Ärzte ihre Patienten. Und inwieweit berührt sie zum Beispiel einen beamteten Studienrat!“
So froh er darüber war, dass Edmund Konrad nicht mehr unter Mordverdacht stand, so bedauerte er, dass er gerade darum in seinem Fall nicht weiter ermitteln durfte. Er gehörte nun in ausgerechnet Hübners Zuständigkeitsbereich. Direktor Schumann hatte ihn in aller Deutlichkeit, um nicht zu sagen Schärfe, daran erinnert.
An der Ecke Adickes-Allee/Eckenheimer-Landstraße schielte er zur Blumenboutique Raskolnikoff hinüber. Spontan beschloss er, ihr einen Besuch abzustatten. Niemand konnte ihm verwehren, Blumen zu kaufen. Als er den Laden betrat, füllte die Verkäuferin Bottiche mit Wasser, der Einarmige bediente eine Kundin. Raabe studierte das Plakat an der Wand. Es kündigte einen Abend mit André Derieux in der Festhalle an. Er erwog, Marion darüber zu informieren, verwarf den Gedanken aus verschiedenerlei Gründen gleich wieder und hörte in diesem Moment Sehrings Stimme hinter sich:
„Bitte sehr, der Herr, was darf es sein?“
„Fünf Perniciana“, antwortete Raabe, bevor er sich umdrehte und dem Geschäftsführer fest in die Augen sah. Der Einarmige erholte sich schnell von seinem Schrecken, deutete eine Verbeugung an und sagte: „Gern, Herr Hauptkommissar.“ Mit drei Schritten war er bei dem Kübel mit den Rosen, zog nacheinander fünf heraus und fragte beiläufig: „Konnten Sie den Mörder des Jungen dingfest machen?“
„Nein. Und mein Kollege den Massenentführer ebenso wenig. Wenn wir den einen haben, ist uns der andere gewiss.“
Sehring band die Rosen mit Schleierkraut zu einem Strauß und verpackte ihn in Zellophan.
„Sagen Sie“ – Sehring hatte seine Nerven nicht völlig im Griff, er zuckte kaum merklich zusammen – „befanden sich zu dem Zeitpunkt, als dieser Lehrer hier war, noch andere Kunden hier im Laden?“
„Nein, soweit ich mich erinnere. Genau weiß ich das nicht mehr.“
„Denken Sie nach. Vielleicht wartete ein
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