Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
„Zur schönen Aussicht“ und durchschritt den Portikus wie am Tag der Eröffnung, mit Dankbarkeit darüber, dass man den Bau der alten Stadtbibliothek wiederhergestellt hatte. Sie war ein wenig verspätet, ihre Pumps klackten über den Marmor der Halle. Als sie das „Paris“ betrat, erblickte sie Dr. Moser sogleich an einem der Tische. Er erhob sich und kam ihr entgegen.
Sie sah sich misstrauisch im Lokal um. Es wäre ihr nicht recht, von Bekannten mit diesem Herrn zusammen gesehen zu werden. Wieso eigentlich? Was war heute los mit ihr? Moser rückte ihr galant den Stuhl zurecht, ließ sich ihr gegenüber nieder und schob sein halb geleertes Bierglas zur Seite. Marion bemerkte sein entwaffnendes Strahlen nicht, sie war bereits in die Karte vertieft – dem Anschein nach. Tatsächlich war sie viel zu aufgeregt und hoffte, dass ihre Erwartungen an das Treffen nicht allzu überzogen wären. In ihren Träumen sah sie sich manchmal mit ihren Bildern in der Schirn.
Als sich der Kellner nach ihren Wünschen erkundigte, wurde ihr klar, dass sie die ganze Zeit das Papier nur angestarrt und nicht eine Zeile gelesen hatte. Sie deutete aufs Geratewohl auf Ziffer acht. „Zitronenrisotto mit Erbsen und Minze, keine Vorspeise bitte und kein Dessert.“ Dr. Moser bestellte das Gleiche, dazu eine Flasche Chablis und sah Marion herausfordernd an.
„Wie ich sehe, haben wir nicht in der Kunst allein den gleichen Geschmack.“
Sie hörte über die Anzüglichkeit hinweg und hoffte, dass er bald zur Sache kommen würde. Und tatsächlich sagte er:
„Wie Sie gewiss bemerkt haben, bin ich ein Bewunderer Ihrer Kunst. Ich verspreche mir viel von einer Vernissage in würdigem Rahmen. Beispielsweise im Foyer des Pegasus-Theaters. Das ließe sich arrangieren und wäre doch ein guter Anfang. Was halten Sie davon?“
Ihr Herz hüpfte vor Freude. Das übertraf weit ihre Erwartungen. Sie war dem Kellner dankbar, dass er in dieser Sekunde den Wein servierte und ihr damit zu einer Atempause verhalf. Mir fällt keine Perle aus der Krone, wenn er meine Freude sieht, nur in dem Maße, wie sie sich entfaltet, muss er sie nicht mitkriegen, dachte sie. Die Gläser klirrten zum Wohle, Marion hielt dem wissenden Blick ihres Gegenübers stand, er erriet, was in ihrem Kopf ablief. Sie entschloss sich, den Stier bei den Hörnern zu packen, lachte ihn an und bekannte: „Ich bin überwältigt, Dr. Moser.“
Er legte die Unterarme auf die Tischkante, faltete die Hände und neigte sich nach vorn. Was wurde das jetzt?
„Meine Lieblingscousine“, sagte er, „ist auch mit einem Polizisten verheiratet. Von daher weiß ich, was das heißt. Ihr ist es leider nicht vergönnt, ihre einsamen Stunden mit einer sinnvollen Beschäftigung zu verbringen, sie verfügt über keinerlei Begabung, hat nicht einmal ein Hobby. Da sind Sie gut dran, mit Ihrer Malerei.“
Na endlich, zurück beim Thema! – Doch nein, er fuhr fort:
„Und wie es so kommt: Wer Sorgen hat, hat auch Likör . Das führt oft in den Abgrund und sie steht nahe dran.“
„Das tut mir sehr leid, nur wüsste ich nicht ...“
„Entschuldigen Sie, es war mir nur gerade in den Sinn gekommen, als ich die Situation meiner bedauernswerten Cousine mit der verglich, in der Sie sich glücklicherweise befinden. Ihre Bilder sind wirklich einsame Spitze. Aber Sie sollten sich dann und wann auch mal ein Vergnügen gönnen, sonst frisst die Kunst Sie auf mit Haut und Haaren.“
Der Mann begann, ihr lästig zu werden.
„Sie werden lachen“, beschied sie, „die Malerei ist mein Vergnügen.“ Und darüber hinaus komme ich voll und ganz auf meine Kosten, aber das geht Sie nun wirklich nichts an, Sie Dreimalkluger.
„Das spürt man, wenn man sich in Ihre Werke vertieft. Sie werden sehen: Sie kommen noch ganz groß raus, früher oder später. Mit meiner Hilfe sogar eher früher. Und ganz nebenbei: Ich verbinde das Nützliche gern mit dem Angenehmen. Um es rundheraus zu sagen: Ich bin verschossen. In Ihre Bilder – und in Sie.“
Damit nicht genug, er probte dazu auch noch den Schlafzimmerblick und versuchte, seine langen Pianistenfinger auf ihre Hand zu legen, die sie ihm noch rechtzeitig entzog. Marion reichte es. Sie stand auf, klemmte ihre Handtasche unter den Arm, schritt an den lang gestreckten Tresen, zahlte ihre Zeche und verließ erhobenen Hauptes das Lokal. Nicht imstande, ihre Wut zu bezähmen, fuhr sie schneller heim, als die Polizei erlaubte, und stoppte mit einem Ruck vor ihrem Haus
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