Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
Scholz nichts geworden. Er ließ sich das Gespräch, soweit man von einem solchen überhaupt reden konnte, noch einmal durch den Kopf gehen. Frau Scholz war durch abwechselndes Schniefen und Schluchzen weitgehend sprechbehindert gewesen. Ihr Mann, fahrig, abwesend, gab Antworten, die nicht auf die Fragen passten. Doch sein Verhalten ließ ein Ahnen zum Hintergrund der Tragödie erkennen, über das er nicht sprach. Es blieb Raabe keine Wahl, er musste den Besuch noch einmal wiederholen.
„Dein Bruder steht nicht mehr unter Verdacht … aber ich glaube, das sagte ich dir bereits“, begrüßte er Koko.
„Ja, sagtest du. Das musste sich ja herausstellen. Edmund ein Mörder – ein schlechter Witz. Ich habe gehört, bei Scholzens ist eingebrochen worden. Was wurde gestohlen?
Komm, setzen wir uns.“
„Der Laptop des Schülers und sämtliche Datenträger.“
„Aha.“
„Genau, aha. Mit etwas Glück werden die Einbrecher ermittelt.“
„Das brächte uns ein Stück voran.“ Koko füllte die Gerippten aus dem Äppelwoibembel, den die Sekretärin wie jeden Donnerstag kaltgestellt hatte.
„Also, Edmund steht nicht mehr unter Verdacht, ist aber noch immer verschwunden. Horst, wir müssen diesem Spiel auf Biegen und Brechen ein Ende setzen!“
„Stimmt. Und – hast du bereits eine Vorstellung von dem dampfenden Ding?“
„Woher sollte ich! Irgendein Teufel sammelt Menschen. Zu welchem Zweck? Und wohin werden sie gebracht?“
„Eine Frage, Koko: Seid ihr Juden?“
„Nein, sind wir nicht. Auch unter den einundsiebzig uns inzwischen überantworteten Vermisstenfälle sind keine, auch keine Ausländer. Antisemitismus oder Fremdenhass ist auszuschließen. Das war das Erste, was wir überprüft haben. Wir konnten bisher überhaupt noch keine Gemeinsamkeit unter den Betroffenen ausmachen. Es sind Frauen und Männer aus den verschiedensten Berufen und Altersgruppen – allerdings ist der überragende Teil über fünfzig, sogar Siebzigjährige gehören dazu.“
„Koko, der Schlüssel liegt in der Blumenboutique, Edmunds letztem bekanntem Aufenthaltsort. Es sollte mich nicht wundern, wenn ...“ Horst sprach den Satz nicht zu Ende. Sein Blick verfinsterte sich. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Rand des Papierkorbs. Die Hände über dem Bauch gefaltet, fixierten seine Augen die Spitze des Ginnheimer Spargels, sahen den Wolken nach, die, von den Lichtern der Stadt angestrahlt, über den schlanken Frankfurter Fernsehturm hinwegzogen. Dabei traktierte er mit den Zähnen seine Unterlippe. Koko kannte das und störte ihn nicht. Er wartete und sah dem Freund gespannt zu, der schließlich den Kopf schüttelte. „Nein“, sagte er, „das kann nicht sein.“ Und wenn Horst Raabe mit solcher Entschiedenheit sprach, dann war nicht aus ihm herauszukriegen, was ihm gerade durch den Sinn gegangen war. Koko drang nicht weiter in ihn.
„Jedenfalls“, fuhr Raabe fort, „weiß der Blumenfritze der Boutique am Hauptfriedhof mehr, als er zu Protokoll gegeben hat. Ich erwähnte am Montag bereits, dass ich Rosen kaufte …“
Horst gab seine Eindrücke wieder, die er in dem Laden gewonnen hatte und schloss: „Und ich kann nichts tun! Als ich die Gelegenheit dazu hatte, habe ich sie nicht intensiv genug genutzt. Den Vorwurf kann ich mir nicht ersparen. Auch angesichts dessen, was Daschner widerfahren ist, hätte ich massiver vorgehen müssen, wenn du weißt, was ich meine.
Du musst in dieser Blumenboutique deine Hebel ansetzen. Der Geschäftsführer – ihm fehlt übrigens ein Arm – weiß etwas. Und er hat Angst ... Und er ist derjenige, der Edmund zuletzt gesehen hat. Nicht auszuschließen, dass er selbst mit drinhängt.“
„Arbeitet Segher allein in dem Laden?“
„Nein, da ist noch eine Mieze, Lolita mit Namen. Scheint recht naiv zu sein.“
„Wunderbar! Mit der wird sich Reinhold Kellermann befassen, unser Frauenheld. Und verlass dich drauf, wenn mit diesem Einarmigen etwas nicht stimmt, bringt er es über das Mädel heraus.“
„Da ist noch etwas. Der Bruder einer Nachbarin von uns wird seit vergangenem Freitag vermisst. Sechsundsiebzig Jahre alt. War mit dem Fahrrad unterwegs zwischen Wiesenstraße und Nibelungenallee. Ich fürchte, dass die Vermisstenanzeige in Hübners Dezernat versickert wie alle anderen auch. Ich hab deshalb Fiffi auf den Plan gerufen. Sieht so aus, als sei er auf etwas gestoßen, will aber noch nicht mit der Sprache heraus. Jedenfalls hat er das
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