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Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)

Titel: Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marianne Reuther
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Raumdecke. Es war noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Mathestunde. Im Geiste war er in seiner Wohnung, die er leer und verlassen wähnte. Seine Gedanken wanderten von der Hartmann-Ibach-Straße nach Oberrad zu seinem Elternhaus, zur Mutter, die seit seinem Verschwinden nachts wohl noch seltener schlafen konnte als all die Jahre über – seit seines Vaters Tod. Sie saß oft stumm am Fenster, die Hände im Schoß und sandte ihre Klagen zum Himmel. Er gäbe alles darum, jetzt über ihren Scheitel streicheln zu können und zu sagen, dass alles wieder gut werde. Er träumte sich weiter in Kokos Haus in der Forsthausstraße. Lydia musste dort sein. Koko und Beate hatten sie bestimmt zu sich geholt. Was würden sie jetzt gerade tun? Kein Zweifel, sie würden an ihn denken, so wie er an sie – das Rätsel seines Verschwindens zu lösen suchen.
    Er hatte wieder alle deutlich vor Augen, selbst den Vater, der schon lange nicht mehr lebte. Nur Lydias Gesicht zeigte sich nicht. Wenn sie in ihrem grünen Kleid erschien, wandte sie ihm den Rücken zu. Das kastanienbraune Haar leuchtete in der Mittagssonne. Sie saß wiederum am Klavier, er hörte sie spielen, ihre geschmeidige Gestalt im Rhythmus der Klänge wiegend. Bewunderte die zarte Linie ihrer Schulter zum Hals – darüber Leere. Plötzlich aber nahm der ovale Kreis unter der Pagenfrisur Konturen an, Augen, Nase und Mund … er erschrak, es war nicht Lydias Gesicht, sondern das von Hannelore Voß und die rief:
    „Hallo, Edmund! Hast du unsere Verabredung vergessen?!“
    Er schnellte aus dem Traum heraus vom Stuhl, öffnete die Tür und stand in völliger Verwirrung vor ihr. Dann trat er hinaus, neben sie, zog die Tür hinter sich zu – sie liefen wortlos durch die Adlergasse. Hannelore betrachtete ihn heimlich von der Seite. Edmund schwieg auf sehr merkwürdige Art, fand sie, schüttelte ihren Kopf, zuckte dann mit den Schultern. Es störte sie nicht weiter, solange sein Kopf für die Mathestunden weiterhin klar blieb – zumindest in den nächsten drei Wochen, die ihr in West noch verblieben.
    Für diesmal hatten sie sich die „Geometrie der Bewegung“ vorgenommen und waren mit so viel Eifer bei der Sache, dass sie beinahe die selbst festgelegte Zeit überzogen hätten, sie wollten doch ins Theater! In Gefangenenkluft. So, wie man hier überallhin ging. Es bedurfte keines Aufwandes, es gab keinen Kult, keinen Garderobenstress. Das hatte schon was! Zynismus pur. Edmund ertappte sich erstmals dabei.
     
    Es war sein dritter Theaterbesuch hier unten, seine Erwartung an die Aufführung eher gedämpft. Den Laiendarstellern fehlte nicht nur die Ausbildung, sondern, was wichtiger war, auch die Freude am Dasein. Er kam eher wegen der Kostüme hierher, wegen der Gelegenheit, Leute in anderer Hülle als in weißen Overalls zu sehen – ganz gleich, welcher Kostümierung aus welchem Jahrhundert. Gleich das erste Bühnenbild bot eine Überraschung, jedenfalls für Edmund, der sich zuvor über die Besetzung nicht informiert hatte. Dieter Schuster spielte den Prinzen, die Rolle seines Kammerdieners hatte Gerschpacher inne, der Bibelsprücheklopfer. Edmund war nicht so recht dabei. Worte riefen bei ihm das Gegenteil hervor und lenkten ihn vom Gang der Handlung ab. Das Wort „Gnade“ wich der „Unerbittlichkeit“, führte ihn in die Apathie – zu Merze und Fischer, zu Gustav und all den anderen armen Hunden. Sie litten nicht, empfanden nichts. Existierten wie Tote. Ihre Gegenwärtigkeit – eine Tratte auf den Tod.
    Nach der Aufführung, von der er nicht viel mitbekommen hatte, schloss Edmund sich einer Gruppe von Zuschauern an, die Theos Café aufsuchte. Er wollte jetzt nicht allein sein. Hannelore hatte sich zurückgezogen. Das war ihm recht, ihre Nähe bereitete ihm heute Unbehagen.
     
    „Lessings löbliches Bekenntnis, nichts fließe ihm aus der Hand, er müsse alles, aber auch alles aus sich herauspressen, ist noch untertrieben. Er hat ja nichts weiter als fremde Gedanken für seine eigenen ausgegeben und verschrobene Figuren aufgezeichnet – in ihrer schieren Poesielosigkeit. Das Machwerk Emilia Galotti hebt das in aller Deutlichkeit hervor.“
    Der da herumräsonierte, blickte beifallheischend in die Runde. Es musste einer der Neuen sein, die in großer Zahl eingetroffen waren. Edmund sah ihn jedenfalls zum ersten Mal.
    „Wie können Sie diesen Stuss von sich geben“, donnerte Ludwig Zimmermann den Kritiker an, „das Große der Galotti-Tragödie ist unbestritten. Sie

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