Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Lauf sehnte. Seit dem Eingriff war ich nur ein- oder zweimal laufen – die wenigen Male, die ich es versucht habe, waren einfach nicht so wie früher – und selbst jetzt reizt mich die Vorstellung wenig. Aber ich will irgendetwas tun.
Ich ziehe mir eine alte Jogginghose und ein dunkles Sweatshirt an. Außerdem setze ich mir ein altes Basecap von meinem Vater auf – erstens, um meine Haare zu bändigen, und zweitens, damit mich niemand erkennt, falls jemand auf der Straße sein sollte. Streng genommen ist es zwar nicht verboten, dass ich nach Anbruch der Ausgangssperre noch draußen bin, aber ich bin nicht scharf darauf, meinen Eltern irgendwelche Fragen beantworten zu müssen. Das ist etwas, das Hana Tate, die zukünftige Hana Hargrove, nicht tun würde. Sie sollen nicht erfahren, dass ich Schlafprobleme habe. Ich darf ihnen keinen Grund geben, misstrauisch zu werden.
Ich binde meine Turnschuhe zu und gehe auf Zehenspitzen zu meiner Zimmertür. Letzten Sommer habe ich mich andauernd rausgeschlichen. Zu der verbotenen Party in der Lagerhalle hinter Otremba’s Paints und der Feier in Deering Highlands, bei der die Razzia stattfand; zu den Nächten am Strand beim Sunset Park und den illegalen Treffen mit ungeheilten Jungen – das Mal bei Back Cove eingeschlossen, als ich zuließ, dass Steven Hilt seine Hand innen auf meinen Schenkel legte, und die Zeit stillzustehen schien.
Steven Hilt: dunkle Wimpern, hübsche gerade Zähne, der Geruch nach Kiefernnadeln; das Kribbeln im Bauch, immer, wenn er mich ansah.
Die Erinnerungen kommen mir wie Schnappschüsse aus dem Leben einer anderen vor.
Ich schleiche mich nach unten. Mit winzigen Bewegungen drehe ich am Schloss der Haustür, bis der Riegel sich lautlos zurückzieht.
Der Wind ist kalt und raschelt in der Ilexhecke, die unseren Garten innerhalb des Zauns einfasst. Auch die Hecke ist ein Merkmal der Siedlung WoodCove Farms: Für Ihre Sicherheit und Ihren Schutz , heißt es in der Broschüre des Immobilienmaklers, und das rechte Maß an Privatsphäre .
Ich halte inne und lausche auf Geräusche umherziehender Patrouillen. Nichts. Trotzdem können sie nicht allzu weit entfernt sein. WoodCove wirbt mit freiwilligen Wachtrupps, die rund um die Uhr im Einsatz sind. Aber die Siedlung ist groß und es gibt zahlreiche Abzweigungen und Sackgassen. Mit ein wenig Glück kann ich ihnen aus dem Weg gehen.
Ich gehe die Vordertreppe hinunter, den Plattenweg entlang bis zum Eisentor. Die verschwommenen Umrisse schwarzer Fledermäuse huschen im Mondlicht vorbei und lassen Schatten über den Rasen gleiten. Ich schaudere. Mein Bewegungsdrang lässt bereits nach. Ich überlege, ins Bett zurückzukehren, mich unter den weichen Decken und Kissen, die leicht nach Waschmittel duften, zu verkriechen, um morgen ausgeruht aufzuwachen und ein üppiges Frühstück mit Rührei zu vertilgen.
Aus der Garage ist ein Krachen zu hören. Ich fahre herum. Die Garagentür steht einen Spaltbreit offen.
Mein erster Gedanke ist, dass ein Fotograf sich dort versteckt hat. Einer ist mal übers Tor geklettert und hat im Garten übernachtet. Aber ich verwerfe die Möglichkeit schnell. Mrs Hargrove hat all unsere Pressetermine sorgfältig arrangiert und bisher hat sich noch keiner für mich interessiert, wenn ich nicht mit Fred zusammen war.
Mein zweiter Gedanke ist: ein Benzindieb. In letzter Zeit ist es wegen der Einschränkungen, die die Regierung angeordnet hat – vor allem für die ärmeren Gegenden der Stadt – in ganz Portland zu einer Welle von Diebstählen gekommen. Besonders schlimm war es im Winter: Öltanks in Heizungskellern und die Benzintanks der Autos wurden geleert; Häuser wurden geplündert und verwüstet. Allein im Februar waren es zweihundert Einbrüche, so viele Verbrechen gab es nicht mehr, seit das Heilmittel vor vierzig Jahren Pflicht wurde.
Ich überlege, ob ich reingehen und Dad wecken soll. Aber das würde Fragen und Erklärungen nach sich ziehen.
Stattdessen gehe ich durch den Garten auf die Garage zu, den Blick auf die halb geöffnete Tür gerichtet. Das Gras ist feucht vom Tau, der sofort meine Turnschuhe durchnässt. Es kribbelt mich am ganzen Körper. Ich werde beobachtet.
Hinter mir knackt ein Zweig. Ich wirbele herum. Wieder fährt ein Windstoß in den Ilex. Ich hole tief Luft und drehe mich zurück zur Garage. Das Herz klopft mir bis zum Hals, ein unangenehmes und fremdes Gefühl. Seit dem Morgen meines Eingriffs, als ich nicht mal den Krankenhauskittel
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