Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
hole die Gegenstände, nach denen er fragt, und kehre damit zurück. Weitere Minuten vergehen; weitere Stunden.
Irgendwann sehe ich auf und neben mir ist nicht mehr Tack, sondern Alex. Er näht mit einer normalen Nähnadel und langem dunklen Faden einen Schnitt an der Schulter der Frau. Er ist blass vor Konzentration, aber er bewegt sich schnell und geschmeidig. Er hat ganz offensichtlich Übung darin. Ich merke wieder, dass ich so vieles über ihn nicht weiß – über seine Vergangenheit, seine Rolle in der Widerstandsbewegung, darüber, wie sein Leben in der Wildnis aussah, bevor er nach Portland gekommen ist –, und ich verspüre einen so heftigen Anfall von Trauer, dass ich beinahe aufschreie: nicht Trauer um das, was ich verloren habe, sondern um die Chancen, die ich verpasst habe.
Unsere Ellbogen stoßen aneinander. Er zuckt zurück.
Der Rauch überzieht jetzt meine Kehle, erschwert das Schlucken. Es riecht nach Asche. Ich säubere weiter die hölzernen Beine und den Körper der Frau, genau wie ich meiner Tante einmal im Monat dabei geholfen habe, den Mahagonitisch zu polieren, langsam und vorsichtig.
Dann ist Alex weg und Tack ist wieder neben mir. Er legt mir die Hände auf die Schultern und zieht mich sanft zurück.
»Es ist gut«, sagt er. »Hör auf. Es reicht. Sie braucht dich nicht mehr.«
Einen Moment denke ich: Wir haben es geschafft, sie ist über den Berg. Aber dann, als Tack mich auf die Zelte zuschiebt, sehe ich ihr Gesicht im Feuerschein aufleuchten – weiß, wächsern, mit offenen Augen, die blind in den Himmel starren – und ich weiß, dass sie tot ist und alles umsonst war.
Raven kniet immer noch neben dem jüngeren Mädchen, aber ihre Fürsorge ist jetzt weniger hektisch und ich höre, dass das Mädchen gleichmäßig atmet.
Julian ist bereits im Zelt. Ich bin so müde, dass ich das Gefühl habe zu schlafwandeln. Er rückt zur Seite und macht mir Platz und ich breche geradezu über ihm zusammen, in dem kleinen Fragezeichen, das sein Körper bildet. Meine Haare stinken nach Rauch.
»Alles in Ordnung mit dir?«, flüstert Julian und tastet im Dunkeln nach meiner Hand.
»Mir geht’s gut«, flüstere ich zurück.
»Und was ist mit ihr ?«
»Tot«, erwidere ich kurz angebunden.
Julian holt tief Luft und ich spüre, wie er sich hinter mir versteift. »Das tut mir leid, Lena.«
»Man kann sie nicht alle retten«, entgegne ich. »So funktioniert es nicht.« Das würde Tack sagen und ich weiß, dass es die Wahrheit ist, obwohl ich es tief in mir drin immer noch nicht so recht glauben will.
Julian drückt mich an sich und küsst mich auf den Hinterkopf und dann lasse ich mich vom Schlaf hinabziehen, weg von dem Brandgeruch.
hana
D
ies ist schon die zweite Nacht, in der ein Bild den Nebel meines Schlafs stört: zwei Augen, die durch düstere Schwaden nach oben treiben. Dann werden die Augen zu Lichtkreisen, Scheinwerfern, die auf mich zusteuern – ich stehe wie erstarrt mitten auf der Straße, umgeben vom schweren Geruch nach Müll und Autoabgasen … regungslos gefesselt von der glühenden Hitze eines Motors …
Kurz vor Mitternacht wache ich schweißüberströmt auf.
Das kann nicht geschehen. Mir nicht.
Ich stehe auf und taste mich ins Badezimmer, wobei ich mit dem Schienbein gegen einen der unausgepackten Umzugskartons in meinem Zimmer stoße. Obwohl wir schon Ende Januar, also vor über zwei Monaten, eingezogen sind, habe ich mir nicht die Mühe gemacht, mehr als das absolut Notwendige auszupacken. In weniger als drei Wochen bin ich verheiratet und muss wieder umziehen. Außerdem bedeuten mir meine früheren Sachen – die Stofftiere, Bücher und witzigen Porzellanfiguren, die ich als Kind gesammelt habe – nicht mehr viel.
Im Bad spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und versuche damit, die Erinnerung an diese Scheinwerfer-Augen, das enge Gefühl in meiner Brust und die Angst davor, überfahren zu werden, zu vertreiben. Ich sage mir, dass es nichts zu bedeuten hat und dass das Heilmittel bei jedem anders wirkt.
Der Mond vor dem Fenster ist rund und unwahrscheinlich hell. Ich drücke meine Nase an die Scheibe. Auf der anderen Straßenseite steht ein Haus, das fast genauso aussieht wie unseres, daneben steht ein weiteres gleiches Haus. So geht es immer weiter, Dutzende Kopien: dieselben Giebeldächer und Neubauten, die auf alt gemacht sind.
Ich habe das Bedürfnis mich zu bewegen. Früher verspürte ich ständig dieses Jucken, wenn mein Körper sich nach einem
Weitere Kostenlose Bücher