Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
weinen. Ich werde nie wieder um Alex weinen.
Raven geht weiter. »Mach schon«, ruft sie mir zu. »Du solltest Julian dabei helfen, die Zelte einzupacken.«
Ich werfe einen Blick über die Schulter. Julian hat bereits die Hälfte der Zelte abgebaut. Als ich zu ihm rübersehe, lässt er schon wieder eins umkippen, das in sich zusammenfällt wie ein rückwärts sprießender Pilz.
»Er hat das im Griff«, sage ich. »Er braucht mich nicht.« Ich mache Anstalten ihr zu folgen.
»Glaub mir« – Raven fährt herum, ihre schwarzen Haare wehen fächerförmig hinterher –, »er braucht dich.«
Einen Augenblick stehen wir einfach da und sehen uns an. In Ravens Blick blitzt etwas auf, ein Ausdruck, den ich nicht so richtig entschlüsseln kann. Vielleicht eine Warnung.
Dann verzieht sie ihre Lippen zu einem Lächeln. »Ich habe hier immer noch das Sagen, weißt du. Du musst auf mich hören.«
Also drehe ich mich um und gehe den Abhang wieder hinunter – auf das Lager zu, zu Julian, der mich braucht.
hana
A
ls ich am nächsten Morgen aufwache, weiß ich einen Moment nicht, wo ich bin. Das Zimmer ertrinkt in Sonnenlicht. Ich habe offenbar vergessen, die Jalousie zu schließen.
Ich setze mich auf und schiebe die Decke ans Fußende des Bettes. Draußen kreischen Möwen, und als ich aufstehe, sehe ich, dass die Sonne das Gras kräftig grün leuchten lässt.
In meinem Schreibtisch finde ich eins der wenigen Dinge, bei denen ich mir die Mühe gemacht habe, sie auszupacken: Nach der Heilung , das dicke Handbuch, das ich nach meinem Eingriff bekommen habe und das, laut der Einleitung, »die Antworten auf die häufigsten – und die weniger häufigen! – Fragen über den Eingriff und seine Nachwirkungen« bietet.
Ich blättere das Buch schnell durch bis zum Kapitel über Träume. Dort überfliege ich mehrere Seiten, die in langweiligen technischen Begriffen detailliert Auskunft über den unbeabsichtigten Nebeneffekt des Heilmittels geben: traumlosen Schlaf. Dann stoße ich auf einen Satz, aufgrund dessen ich das Buch am liebsten an mich drücken würde: »Wie wiederholt betont, sind Menschen unterschiedlich, und obwohl der Eingriff die Unterschiede in Temperament und Persönlichkeit verringert, wirkt er doch zwangsläufig bei jedem Menschen anders. Etwa fünf Prozent der Geheilten berichten, dass sie weiterhin träumen.«
Fünf Prozent. Keine riesige Menge, aber immerhin auch kein extrem geringer Prozentsatz.
Seit Tagen ging es mir nicht mehr so gut. Ich klappe das Buch zu und treffe einen Entschluss.
Ich werde heute mit dem Fahrrad zu Lenas Haus fahren.
Schon seit Monaten war ich nicht in der Nähe ihres Hauses in der Cumberland Street. Dies wird meine Art sein, unserer alten Freundschaft Respekt zu zollen und das ungute Gefühl loszuwerden, das mich quält, seit ich Jenny gesehen habe. Lena mag der Krankheit verfallen sein, aber das war schließlich teilweise auch meine Schuld.
Wahrscheinlich muss ich deshalb immer noch an sie denken. Das Heilmittel unterdrückt nicht alle Gefühle und die Schuldgefühle kommen immer noch durch.
Ich werde an ihrem früheren Haus vorbeifahren und mich vergewissern, dass es allen gut geht. Dann werde ich mich besser fühlen. Schuld erfordert Vergebung und ich habe mir für meinen Anteil an ihrem Verbrechen noch nicht vergeben. Vielleicht nehme ich sogar ein bisschen Kaffee mit. Lenas Tante Carol war immer ganz scharf auf das Zeug.
Und anschließend kehre ich in mein Leben zurück.
Ich spritze mir Wasser ins Gesicht, ziehe mir eine Jeans und meine Lieblings-Fleecejacke an, die von vielen Jahren im Trockner ganz weich geworden ist, und stecke meine Haare zu einem lockeren Dutt hoch. Lena hat immer das Gesicht verzogen, wenn ich die Haare so trug. Gemein , sagte sie. Wenn ich das versuchen würde, sähe es aus, als hätte ein Vogel auf meinem Kopf ein Nest gebaut.
»Hana? Alles in Ordnung?«, ruft mir meine Mutter besorgt und mit gedämpfter Stimme vom Flur her zu. Ich öffne die Tür.
»Ja«, sage ich. »Warum?«
Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Hast du … hast du gesungen?«
Offenbar habe ich unbewusst gesummt. Eine Welle aus Verlegenheit überkommt mich.
»Ich habe versucht, mich an den Text von einem Lied zu erinnern, das Fred mir vorgespielt hat«, sage ich schnell. »Ich habe nur noch einzelne Worte daraus im Kopf.«
Der Gesichtsausdruck meiner Mutter entspannt sich. »Du kannst es bestimmt in der BEMF finden«, sagt sie. Sie streckt den Arm aus
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