Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
und nimmt mein Kinn in die Hand, mustert einen Moment kritisch mein Gesicht. »Hast du gut geschlafen?«
»Wunderbar«, sage ich. Ich löse mich aus ihrem Griff und gehe auf die Treppe zu.
Unten in der Küche geht Dad auf und ab. Bis auf die Krawatte ist er bereits fürs Büro angezogen. Schon an einem Blick auf seine Haare erkenne ich, dass er seit einer ganzen Weile die Nachrichten sieht. Seit letztem Herbst, als die Regierung die erste Stellungnahme abgegeben hat, in der sie die Existenz der Invaliden anerkannte, besteht er darauf, praktisch ununterbrochen die Nachrichten laufen zu lassen, sogar wenn wir aus dem Haus gehen. Während er zusieht, verzwirbelt er die Haare zwischen seinen Fingern.
In den Nachrichten sagt eine Frau mit orange geschminktem Mund gerade: »Aufgebrachte Bürger haben heute Morgen die Polizeiwache in der State Street gestürmt und Aufklärung darüber verlangt, wie es den Invaliden gelingen konnte, sich unbehelligt in den Straßen der Stadt zu bewegen, um ihre Drohungen zu verteilen …«
Unser Nachbar Mr Roth sitzt am Küchentisch und dreht einen Becher Kaffee zwischen seinen Handflächen. Er gehört schon fast zum Inventar.
»Guten Morgen, Hana«, sagt er, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
»Hi, Mr Roth.«
Obwohl die Roths gegenüber wohnen und Mrs Roth ständig von den neuen Kleidern erzählt, die sie ihrer älteren Tochter Victoria gekauft hat, weiß ich, dass sie Mühe haben, klarzukommen. Keins ihrer Kinder hat eine besonders gute Partie gemacht, vor allem wegen eines kleinen Skandals, der mit Victoria in Verbindung gebracht wurde. Man erzählt sich, sie sei zu einem früheren Eingriff gezwungen worden, nachdem sie während der Ausgangssperre draußen erwischt worden war. Mr Roths Karriere ist daraufhin zum Erliegen gekommen und man kann deutlich sehen, dass sie in finanziellen Schwierigkeiten stecken: Sie benutzen ihr Auto nicht mehr, obwohl es immer noch glänzend in der Auffahrt hinter dem Eisentor steht. Und das Licht bei ihnen zu Hause geht früh aus; ganz offensichtlich versuchen sie Strom zu sparen. Ich nehme an, dass Mr Roth so oft hier vorbeikommt, weil er keinen funktionierenden Fernseher mehr hat.
»Hi, Dad«, sage ich, als ich mich am Küchentisch vorbeischiebe.
Er antwortet mit einem Grunzen, während er wieder nach einer Haarsträhne greift, die er um den Finger wickelt. Die Nachrichtensprecherin sagt: »Die Flugblätter wurden in einem Dutzend verschiedener Gegenden verteilt und sogar bei Spielplätzen und Grundschulen durch die Tore geschoben.«
Sie zeigen Bilder von einer Menge Demonstranten auf den Stufen des Rathauses. Auf ihren Transparenten steht: erobert unsere strassen zurück und für ein deliria-freies amerika .
Die VDFA verzeichnet einen enormen Anstieg der Unterstützung, seit ihr Präsident Thomas Fineman letzte Woche ermordet worden ist. Er gilt bereits als Märtyrer und im ganzen Land werden Gedenkveranstaltungen für ihn abgehalten.
»Warum unternimmt niemand etwas zu unserem Schutz?«, spricht ein Mann in ein Mikrofon. Er muss gegen den Lärm der anderen Demonstranten anschreien. »Es ist doch Aufgabe der Polizei, uns vor diesen Irren zu schützen, stattdessen lässt man sie unbehelligt die Straßen bevölkern.«
Mir fällt wieder ein, wie unbedingt ich gestern Nacht dieses Flugblatt loswerden wollte, als würde das bedeuten, dass es nie existiert habe. Aber natürlich hatten es die Invaliden gar nicht direkt auf uns abgesehen.
»Es ist eine Schande!«, explodiert mein Vater. Ich habe erst zwei- oder dreimal erlebt, dass er die Stimme erhebt, und nur einmal ist er richtig außer sich geraten: als sie die Namen der Leute verkündeten, die bei den Terrorangriffen ums Leben gekommen waren, und Frank Hargrove – Freds Vater – unter den Toten war. Wir saßen vor dem Fernseher und plötzlich drehte sich Dad um und schleuderte sein Glas gegen die Wand. Meine Mutter und ich waren so überrascht, dass wir einfach bloß dasaßen und ihn anstarrten. Ich werde nie vergessen, was er in jener Nacht sagte: Amor deliria nervosa ist keine Krankheit der Liebe, sondern der Selbstsucht. »Wozu haben wir denn die Nationale Sicherheitsverwaltung, wenn …«
Mr Roth unterbricht ihn: »Komm schon, Rich, setz dich. Du regst dich nur auf.«
»Natürlich rege ich mich auf. Dieses Ungeziefer …«
In der Vorratskammer sind jede Menge Cornflakesschachteln und Kaffeepackungen ordentlich aufgereiht. Ich klemme mir eine Packung Kaffee unter den Arm
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