Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
schnell. Regierungsparzellen grenzen an schäbige Grundstücke und ich komme an drei Wohnwagenparks hintereinander vorbei. Überall stehen Grills und Feuerstellen, und alles ist von einem Film aus Rauch und Asche überzogen, weil die Leute, die hier leben, Strom sparen.
Über die Brighton Avenue gelange ich dann auf die Halbinsel und überschreite damit streng genommen die Grenze zum Zentrum Portlands. Aber das Rathaus und die städtischen Gebäude und Laboratorien, wo sich die Demonstranten versammelt haben, sind mehrere Kilometer entfernt. Die Gebäude hier, so weit von Old Port weg, sind nur wenige Stockwerke hoch und wechseln sich mit Eckläden, billigen Waschsalons, heruntergekommenen Kirchen und schon lange ungenutzten Tankstellen ab.
Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal bei Lena zu Hause war, statt sie bei mir, aber in meinem Kopf herrscht ein Durcheinander aus Jahren und Bildern, der Geruch nach Dosenravioli und Milchpulver. Lena schämte sich für ihr beengtes Zuhause und ihre Familie. Sie wusste, was die Leute redeten. Aber ich war immer gerne bei ihr. Ich weiß nicht genau, warum. Ich glaube, damals fand ich gerade das Behelfsmäßige reizvoll – die Betten, die in den Schlafzimmern im ersten Stock eng beieinanderstanden, die Geräte, die nie richtig funktionierten, die Sicherungen, die dauernd heraussprangen, eine verrostete Waschmaschine, die nur noch zum Aufbewahren der Winterkleidung genutzt wurde.
Obwohl es acht Monate her ist, finde ich den Weg zu Lenas altem Haus problemlos und erinnere mich sogar noch an die Abkürzung über den Parkplatz zur Cumberland Street.
Inzwischen schwitze ich und halte ein paar Häuser vor dem der Tiddles an, nehme das Basecap ab und fahre mir mit den Fingern durch die Haare, damit ich halbwegs anständig aussehe. Weiter unten auf der Straße knallt eine Tür und eine Frau tritt auf eine Veranda, die mit kaputten Möbeln vollgestellt ist, darunter seltsamerweise eine Klobrille mit rostbraunen Flecken. Sie hat einen Besen in der Hand und macht sich ans Fegen, immer wieder hin und her auf denselben zehn Quadratzentimetern – wobei sie mich nicht aus den Augen lässt.
Die Gegend ist übler, viel übler als früher. Die Hälfte der Häuser ist mit Brettern vernagelt. Ich komme mir vor wie eine Taucherin in einem neuen U-Boot, das am Wrack eines gesunkenen Schiffes vorbeifährt. Vorhänge bewegen sich in den Fenstern und ich spüre unsichtbare Blicke, die meinem Weg die Straße entlang folgen – und dazu Wut, die in all den tristen, heruntergekommenen Häusern brodelt.
Plötzlich kommt mir die Idee, hierherzukommen, unglaublich dämlich vor. Was soll ich überhaupt sagen? Was kann ich sagen?
Aber jetzt, wo ich so nah bin, will ich nicht umkehren, ohne es gesehen zu haben: Nummer 237, Lenas altes Haus. Doch sofort, als ich mein Fahrrad bis vors Tor geschoben habe, sehe ich, dass es schon seit einer ganzen Weile unbewohnt ist. Am Dach fehlen mehrere Dachziegel und die Fenster sind mit schwammfarbenem Holz vernagelt. Auf die Haustür ist ein großes rotes X gemalt, das Zeichen dafür, dass dieses Haus ein Hort der Krankheit war.
»Was wollen Sie hier?«
Ich fahre herum. Die Frau auf der Veranda hat aufgehört zu fegen; sie hält den Besen in einer Hand und schirmt mit der anderen ihre Augen ab.
»Ich suche die Tiddles«, sage ich. Meine Stimme klingt auf der offenen Straße zu laut. Die Frau starrt mich weiterhin an. Ich zwinge mich, näher zu gehen, mein Fahrrad über die Straße bis zu ihrem Gartentor zu schieben, obwohl irgendetwas in meinem Inneren sich dagegen auflehnt, mir sagt, ich solle verschwinden. Ich gehöre nicht hierher.
»Die Tiddles sind letzten Herbst weggezogen«, sagt sie und fegt weiter. »Sie waren hier nicht mehr willkommen. Nicht nach …« Plötzlich bricht sie ab. »Na ja, wie auch immer. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, und es ist mir auch egal. Was mich betrifft, können sie ruhig in den Highlands versauern. Hier die Gegend zu verderben, es allen anderen schwer zu machen …«
»Sind sie da hingezogen?« Ich halte mich an dem winzigen Informationsschnipsel fest. »Nach Deering Highlands?«
Ich merke augenblicklich, dass sie sich jetzt in Acht nimmt. »Was geht Sie das an?«, fragt sie. »Gehören Sie zur Jugendwache oder so was? Das ist eine gute Gegend hier, eine saubere Gegend.« Sie knallt den Besen auf die Veranda, als versuchte sie unsichtbare Insekten zu zerquetschen. »Ich lese jeden Tag das
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