Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
und rücke die anderen zurecht, damit man die Lücke nicht bemerkt. Dann nehme ich mir ein Stück Brot und bestreiche es mit Erdnussbutter, obwohl mir die Nachrichten völlig den Appetit verdorben haben.
Ich gehe wieder durch die Küche und bin schon halb den Flur entlang, als Dad sich umdreht und ruft: »Wo willst du hin?«
Ich drehe mich so zur Seite, dass er den Kaffee nicht sehen kann. »Ich dachte, ich drehe eine Runde auf dem Fahrrad«, sage ich fröhlich.
»Auf dem Fahrrad?«, wiederholt mein Vater.
»Das Hochzeitskleid sitzt ein bisschen knapp.« Ich halte das zusammengeklappte Brot hoch. »Stresspfunde, nehme ich an.« Wenigstens hat sich meine Fähigkeit zu lügen durch das Heilmittel nicht verändert.
Mein Vater runzelt die Stirn. »Aber fahr nicht in die Innenstadt, okay? Es gab letzte Nacht einen Vorfall …«
»Vandalismus«, sagt Mr Roth. »Nichts weiter.«
Jetzt zeigt das Fernsehen Bilder der terroristischen Zwischenfälle vom Januar: den unvermittelten Einsturz einer der Grüfte-Mauern, von einer Handkamera grobkörnig eingefangen; Flammen, die aus dem Rathaus schlagen; Leute, die aus stehengebliebenen Bussen strömen und panisch und verwirrt durch die Straßen rennen; eine Frau, die in der Bucht kauert, ihr Kleid bläht sich in den Wellen, und sie schreit, dass der Jüngste Tag angebrochen sei; eine dicke Staubwolke, die durch die Stadt treibt und alles mit einer kreideweißen Schicht überzieht.
»Das ist erst der Anfang«, entgegnet mein Vater mit scharfer Stimme. »Das Flugblatt soll ganz offensichtlich eine Drohung sein.«
»Sie werden keine größere Sache zustande bringen. Sie sind überhaupt nicht organisiert.«
»Das haben letztes Jahr auch alle gesagt und dann hatten wir ein Loch in den Grüften, einen toten Bürgermeister und eine Stadt voller Psychopathen. Weißt du, wie viele Gefangene an jenem Tag entkommen sind? Dreihundert.«
»Die Sicherheitsvorkehrungen sind seitdem verstärkt worden«, beharrt Mr Roth.
»Die Sicherheitsvorkehrungen haben die Invaliden nicht davon abgehalten, Portland gestern Nacht in ein riesiges Postamt zu verwandeln. Wer weiß, was noch alles passieren könnte?« Er seufzt und reibt sich die Augen. Dann dreht er sich zu mir um. »Ich will nicht, dass meine einzige Tochter in Stücke gerissen wird.«
»Ich fahre nicht ins Zentrum, Dad«, sage ich. »Ich halte mich von der Halbinsel fern, okay?«
Er nickt und wendet sich wieder dem Fernseher zu.
Draußen auf der Veranda bleibe ich stehen und esse das Brot mit einer Hand, die Kaffeepackung unter den Arm geklemmt. Mir fällt zu spät auf, dass ich Durst habe. Aber ich will nicht noch mal reingehen.
Ich knie mich hin, stecke den Kaffee in meinen alten Rucksack – der immer noch leicht nach dem Erdbeerkaugummi riecht, den ich früher immer gekaut habe – und ziehe mir das Basecap wieder über den Pferdeschwanz. Auch eine Sonnenbrille setze ich auf. Ich habe keine übermäßige Angst, von Fotografen erwischt zu werden, aber ich will kein Risiko eingehen, falls ich irgendeinem Bekannten begegne.
Ich hole mein Rad aus der Garage und schiebe es auf die Straße. Es heißt immer, dass man Radfahren nicht verlernt, aber nachdem ich aufgestiegen bin, schwanke ich heftig hin und her wie ein Kleinkind, das gerade erst Fahren lernt. Nach ein paar wackeligen Sekunden gelingt es mir, das Gleichgewicht zu halten. Ich lenke das Fahrrad bergab und lasse mich den Brighton Court runterrollen, auf das Pförtnerhaus und die Grenze von WoodCove Farms zu.
Das Surren der Räder auf dem Asphalt und der raue, kühle Wind in meinem Gesicht haben etwas Beruhigendes. Ich habe nicht dasselbe Gefühl wie früher beim Laufen, aber es macht mich zufrieden, wie wenn man sich nach einem langen Tag in ein frisch bezogenes Bett legt.
Das Wetter ist wunderschön, sonnig und überraschend kalt. An so einem Tag scheint es unvorstellbar, dass das halbe Land von Aufständischen bedroht wird; dass Invaliden wie Abwasser durch Portland strömen und ihre Botschaft der Leidenschaft und Gewalt verbreiten. Es scheint unvorstellbar, dass irgendetwas auf der Welt falsch läuft. Stiefmütterchen nicken mir wie zustimmend zu, als ich an ihnen vorbeisause, immer schneller werde, mich vom Schwung bergab tragen lasse. Ohne anzuhalten schieße ich durch das Eisentor und am Pförtnerhaus vorbei und hebe eine Hand zu einer schnellen Begrüßung, obwohl ich bezweifle, dass Saul mich erkennt.
Außerhalb von WoodCove Farms verändert sich die Gegend
Weitere Kostenlose Bücher